Laryngorhinootologie 2024; 103(02): 133-134
DOI: 10.1055/a-2112-7635
Gutachten und Recht

Der Sachverständige geht online

Videokonferenz statt Ortstermin
Albrecht Wienke
,
Kim-Victoria Seibert

Gerichtliche Auseinandersetzungen, bei denen die Hinzuziehung medizinisch- wissenschaftlichen Sachverstandes erforderlich ist, spielen sich in verschiedenen Szenarien ab. Bei Streitigkeiten vor den Sozialgerichten geht es u.a. um die Feststellung einer Erwerbsminderung oder um die Berechtigung der Zahlung einer Erwerbsrente, um die Feststellung einer Berufskrankheit oder um die Bestätigung einer von Klägerseite geltend gemachten körperlichen Beeinträchtigung, z.B. Lärmschwerhörigkeit. Vor den Zivilgerichten werden Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche von Patientinnen und Patienten gegenüber Krankenhäusern und behandelnden Ärzten geltend gemacht mit der Begründung, fehlerhaft behandelt worden zu sein oder nicht ordnungsgemäß über bestimmte Untersuchungen oder Behandlungen aufgeklärt worden zu sein. In diesen zivilgerichtlichen Verfahren ist die Hinzuziehung medizinisch-wissenschaftlicher Sachverständiger an der Tagesordnung, da die entscheidenden Gerichte nicht über die spezifische medizinische Sachkunde verfügen. Auch in verwaltungsgerichtlichen, arbeitsgerichtlichen, strafrechtlichen und finanzgerichtlichen Verfahren kommt es immer wieder zur Hinzuziehung von Fachsachverständigen, um die jeweilige dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachmaterie richtig einzuordnen und zu bewerten.

Die von den Gerichten in den einzelnen Verfahren bestellten Sachverständigen haben ihrer Ernennung als Sachverständige Folge zu leisten, wenn dem nicht zwingende Gründe entgegenstehen, z.B. fachlich ungeeignet, nachweisliche Überlastung, Fachgebietsfremdheit etc. Die so bestellten Sachverständigen werden in aller Regel um die Erstattung eines schriftlich begründeten wissenschaftlichen Sachverständigengutachtens zu den strittigen medizinischen Sachfragen gebeten. In vielen Fällen müssen die Sachverständigen ihre schriftlich niedergelegten Bewertungen auf Antrag der im Prozess beteiligten Parteien oder auch auf Aufforderung des Gerichts im Zuge einer mündlichen Verhandlung erläutern. Gesetzlicher Hintergrund ist § 128 der Zivilprozessordnung (ZPO). Danach verhandeln die Parteien über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht stets mündlich. Nach § 411 Abs. 3 ZPO kann das Gericht das (physische) Erscheinen des Sachverständigen anordnen, damit er das schriftliche Gutachten erläutert. In einem Haupttermin können dann alle Beteiligten des Rechtsstreits, also insbesondere das Gericht, die Parteien und ihre Rechtsanwälte, alle fachmedizinischen Aspekte hinterfragen, nachvollziehen und bewerten.

Mit der Erstellung des Gutachtens und der Erläuterung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung mit physischer Anwesenheit aller Beteiligter ist ein enormer zeitlicher und wirtschaftlicher Aufwand verbunden. Der Gesetzgeber hat daher bereits im Jahr 2010 den Entwurf eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vorgelegt, der im Zuge des legislativen Verfahrens u.a. in einen neuen Paragrafen § 128 a ZPO mündete. Konkret wurde unter anderem folgende neue gesetzliche Regelung in Kraft gesetzt:

„Das Gericht kann auf Antrag gestatten, dass sich […] ein Sachverständiger […] während einer Vernehmung an einem anderen Ort aufhält. Die Vernehmung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. […] Die Übertragung wird nicht aufgezeichnet. Entscheidungen des Gerichts sind unanfechtbar.“

Im Gesetzesentwurf aus dem Frühjahr 2010 wurde festgehalten, dass sich in der gerichtlichen Praxis der Einsatz von Videokonferenztechnik noch nicht entscheidend durchgesetzt habe. Dies beruhe zum einen auf der meist noch fehlenden technischen Ausstattung der Gerichte, Justizbehörden und Anwaltskanzleien, zum anderen aber auch auf der Anknüpfung der Verfahrensordnungen an das Einverständnis der Beteiligten zum Einsatz von Videokonferenztechnik. Einer solchen ausdrücklichen Zustimmung der Parteien bedarf es nun seit dem Jahr 2010 nicht mehr.

Die Vorteile der verstärkten Nutzung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren liegen auf der Hand. Durch die Bereitstellung dieser Technik durch die Justizverwaltungen wird vor allem der Anwaltschaft, aber auch anderen Verfahrensbeteiligten, wie den bestellten Sachverständigen, in geeigneten Fällen die Gelegenheit gegeben, an gerichtlichen Verfahren ohne physische Anwesenheit und daher auch ohne zeit- und kostenaufwendige Reisetätigkeit teilzunehmen. Der geringere zeitliche Aufwand für alle Beteiligten und das Gericht erleichtert auch die Terminierung von mündlichen Verhandlungen und Erörterungsterminen und trägt damit auch zu einer Verfahrensbeschleunigung und einer Erhöhung der Wirtschaftlichkeit nicht zuletzt bei der Anwaltschaft und den hinzugezogenen Sachverständigen bei.

Ungeachtet dieser bereits seit Frühjahr 2010 bestehenden prozessualen Vereinfachungen hat erst die Corona-Pandemie zu einer stark zunehmenden Nutzung der verfahrensrechtlichen Neuregelungen geführt. Aus guten Gründen haben sich nicht nur Parteien und ihre Anwälte, sondern insbesondere auch Sachverständige auf die Möglichkeiten des § 128 a ZPO bezogen und bei Gericht beantragt, über den Einsatz von Videokonferenzsystemen an Anhörungen und mündlichen Verhandlungen teilzunehmen. Anfangs waren die Gerichte bei der Gestattung dieser Verfahrensweise noch zurückhaltend, da die erforderlichen technischen Ressourcen nicht vorgelegen haben. Im Zuge der Corona-Pandemie sind diese Ausstattungsdefizite jedoch weitläufig weggefallen. Folge hiervon ist, dass mündliche Verhandlungen und Anhörungen von Sachverständigen zunehmend durch Nutzung von Videokonferenztechnik durchgeführt werden.

Die in § 128 a der Zivilprozessordnung vorgesehenen Möglichkeiten gelten Kraft entsprechender Verweisungsnormen auch in anderen Verfahrensordnungen, also auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Sozialgerichtsbarkeit, der Arbeitsgerichtsbarkeit, bei finanzgerichtlichen Verfahren und z.B. in Insolvenzverfahren. Auch in staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren und in Strafverfahren ist der Einsatz von Videokonferenztechnik mittlerweile gesetzlich zugelassen.

Was bedeutet dies nun konkret für medizinische Sachverständige, die zur Erläuterung ihrer Gutachten zu mündlichen Verhandlungen geladen werden?

Sobald gerichtlich bestellte Sachverständige eine Ladung zu einem bestimmten Gerichtstermin vom Gericht erhalten, anlässlich dessen sie ihr schriftlich zuvor abgegebenes Gutachten erläutern sollen, oder es schlicht um eine mündliche Anhörung des Sachverständigen geht, können diese Sachverständigen auf Antrag an das erkennende Gericht die Erlaubnis erhalten, sich während der Vernehmung an einem anderen Ort aufzuhalten. Dies kann der Arbeitsort des Sachverständigen, also die Klinik oder die eigene Praxis sein, es kann aber auch der eigene Wohnort des Sachverständigen oder ein für die Videokonferenz im Übrigen tauglicher Ort gewählt werden, sofern die geltenden Datenschutzbestimmungen und die Privatsphäre eingehalten werden. Ein solcher Antrag sollte kurzfristig nach Mitteilung des Gerichtstermins bei Gericht gestellt werden. Dazu genügt ein formloses Schreiben an das jeweilige Gericht. Sollten entsprechende technische Voraussetzungen beim erkennenden Gericht vorhanden sein, wird in der Regel das Gericht durch Beschluss die Möglichkeit des Einsatzes des Videokonferenzsystems für den Sachverständigen beschließen. Sollte aus welchen Gründen auch immer, also insbesondere aus technischen Umständen, die Teilnahme des Sachverständigen an der mündlichen Verhandlung durch den Einsatz von Videokonferenzsystemen nicht erlaubt werden, ist die Entscheidung des erkennenden Gerichts unanfechtbar. Der Sachverständige muss dann der Anordnung des physischen Erscheinens vor dem Gericht anlässlich des bestimmten Termins Folge leisten. Auch eine Beschwerde der Parteien für oder gegen die Entscheidung des Gerichts ist nicht zulässig.

Die Verfahrensweise nach § 128 a Abs. 2 ZPO sollte von den bestellten Sachverständigen zukünftig zunehmend genutzt werden. Die Vorteile des Einsatzes von Videokonferenzsystemen liegen auf der Hand. Der Sachverständige bzw. die Gerichtsverwaltungen sparen Reisekosten, zudem reduzieren sich die mit einer physischen Teilnahme am Gerichtstermin erforderlichen Zeitaufwände. Da Sachverständige nicht immer aus jeweiligen Gerichtssprengel bestellt werden, sondern teilweise, insbesondere auch zur Vermeidung potenzieller Interessenkonflikte, von weit her anreisen müssen, stellt die Vereinfachung durch den Einsatz von Videokonferenzsystemen nach § 128 a Abs. 2 ZPO eine willkommene verfahrensrechtliche Vereinfachung dar, auch über weite Wege hinweg die medizinisch-wissenschaftliche Expertise des jeweils beauftragten Sachverständigen zu nutzen.

Nach der Gesetzesbegründung stellt der Einsatz von Videokonferenztechnik in der Rechtsprechung auch für bestellte Sachverständige ein Serviceangebot im Sinne einer kundenorientierten Justiz dar. Die Corona-Pandemie hat letztlich der Nutzung dieser verfahrensrechtlichen Vereinfachungen einen immensen Schub gegeben, der in der Praxis noch viel häufiger genutzt werden sollte, als das bisher der Fall war.

Köln im Juni 2023

Rechtsanwalt Dr. Albrecht Wienke
Fachanwalt für Medizinrecht

Rechtsanwältin Kim-Victoria Seibert
Fachanwältin für Medizinrecht

Wienke & Becker – Köln
Sachsenring 6
50677 Köln
AWienke@Kanzlei-wbk.de



Publication History

Article published online:
06 February 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany