Psychother Psychosom Med Psychol 2012; 62(06): 227-228
DOI: 10.1055/s-0032-1304950
Fragen aus der Forschungspraxis
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wann sind Daten zu alt?

When are Data “too Old to Rock’n’Roll, too Young to Die”?
U. Berger
1   Universitätsklinikum Jena der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
25. Mai 2012 (online)

Was wird erklärt?

Zwischen der Datenerhebung und der Publikation von Forschungsergebnissen vergehen oft mehrere Jahre. Gründe hierfür sind fehlende Ressourcen für eine parallele anstelle einer sukzessiven Datenerhebung, mehrere Messzeitpunkte sowie lange Begutachtungszeiten insbesondere von Fachzeitschriften mit hohem Impact-Faktor. Nicht selten stellt sich dann in Forschungsprojekten die Frage, wie alt Daten sein dürfen, um noch publikationswürdig zu sein.

Forschung hat den Anspruch, Wissen zu schaffen – neues Wissen! Forschungsergebnisse, die in einer Fachzeitschrift publiziert werden, geben Antworten auf Fragen, die bislang noch unbeantwortet sind. Da die Grundlage wissenschaftlicher Forschung Daten sind, geht der Leser einer Fachzeitschrift automatisch davon aus, dass auch die Daten Neuigkeitswert haben. Dies ist jedoch häufig nicht der Fall. Prominentes Beispiel ist der Bundes-Gesundheitssurvey (BGS98) des Robert Koch-Instituts zum Gesundheitszustand der (erwachsenen) Deutschen. Die Datenerhebung der schriftlichen Befragungen wurde 1998 abgeschlossen, Ergebnisse werden aber bis heute publiziert, da voraussichtlich erst Ende 2012 die Daten der neuen Repräsentativerhebung (DEGS) vorliegen werden (s. www.rki.de). Die Frage, ob die eigenen Daten zu alt für eine Publikation sind, kann nicht pauschal beantwortet werden. Die im Folgenden skizzierten Überlegungen und die Ergebnisse einer Blitzumfrage unter Editoren von Fachzeitschriften ([Tab. 1]) könnten jedoch hierbei eine Orientierung bieten.

Tab. 1

Fragen und Antworten einer Blitzumfrage unter 27 Editoren deutschsprachiger Fachzeitschriften.

Fragen
Antworten

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

Resümee

1. Wie viele Jahre sollten Ihrer Meinung nach maximal zwischen der Erhebung und der Publikation von Analysen aus Primärdaten liegen?

Kommt auf die Fragestellung an. Manche Daten werden kaum wirklich alt.

Stehen Daten in Abhängigkeit von sozialem Wandel, sind 5 – 10 Jahre akzeptabel.

6 – 12 Monate zwischen Abschluss der Datenerhebung und Einsendung der Veröffentlichung sind vertretbar.

Das hängt von der Fragestellung der Studie ab.

Wenn Erhebungszeitraum und Methodik angegeben werden, gibt es kein Verfallsdatum für Daten.

Prinzipiell kein Verfallsdatum. Zeitraum der Datenerhebung sollte in jedem Fall genannt werden.

Nicht mehr als 3, maximal 5 Jahre.

5 Jahre

Sehr abhängig von den gemessenen Parametern und Methoden. Am besten nicht mehr als 2 Jahre.

Je schneller publiziert, desto besser. Angemessenheit an Forschungsfrage orientiert.

10 Jahre ist eine gewisse Grenze. Als Gutachter bei alten Daten Gefühl von „2. Wahl“.

Ohne plausiblen Grund sollten 5 Jahre nicht überschritten werden.

Keine grundsätzliche Beschränkung, wenn das Untersuchte (z. B. ein Therapieansatz) noch aktuell ist.

Je nach Art der Daten: Epidemiologische Daten altern relativ schnell, Inhaltsanalysen dauern evtl. mehrere Jahre.

Kein Maximaldatum, aber Transparenz für Interpretation erforderlich.

abhängig von Fragestellung, Datenart und Erhebungsaufwand: Spannbreite 1 Jahr bis ∞

Häufigste Nennung: 5 Jahre

2. Welche Gründe fallen Ihnen spontan ein, die eine Publikation auch älterer Daten rechtfertigen?

– wenn Interventionen noch aktuell

– Reanalysen mit aktuellen Methoden

– Reanalysen mit neueren Methoden

– Detailanalysen

– Anlegung einer neuen Fragestellung

– veränderte Analysemethode

– wenn es keinen Grund zur Annahme gibt, Daten seien nicht mehr relevant

– historisches Interesse

– Zeitlosigkeit bestimmter Fragestellungen

– Reanalysen mit neueren Methoden

– Metaanalysen

– Teildaten später erhoben

– Datenbasis einzigartig

– Reanalysen

– Verzögerung gut begründet

– Relevanz der Fragestellung

– methodische Entwicklung

– Reanalyse mit neuen Parametern oder neuer Methodik

– Follow-up-Messung

– Fragestellungen mit beständigen Merkmalen

– wenig Kohorteneffekte zu erwarten

– 20 Jahre alte methodisch saubere Studie zumeist auch heute noch relevant

– Daten mit längerer Bedeutung (z. B. epidemiologische oder soziodemografische)

– neue Konzepte/ Methoden, die bei der ursprünglichen Auswertung noch nicht zur Verfügung standen

– wenn Aufwand hoch oder wenige, keine besseren oder zeitnähere Daten zum Problem vorhanden

– seltene Störungsbilder, die „Sammeln“ erfordern

– historische Vergleichsstichproben

– Verlaufsuntersuchungen

– Fragestellung „zeitlos“

– Reanalysen (neue Methoden, Metaanalysen, Follow-up)

– Langzeitstudien

3. Welche Gründe fallen Ihnen spontan ein, die zur Ablehnung eines Manuskripts aufgrund zu alter Daten führen könnten?

– Diagnosekriterien, Behandlungen, Rahmenbedingungen geändert

– Diskurse passé

– Publikation nicht inhaltlich begründet

– veraltete Instrumente

– veraltete Messmethoden

– überkommene Fragestellung

– Daten nicht mehr relevant wegen geänderter Sachlage (Ausnahme historische Frage)

– aktuelle Ergebnisse unberücksichtigt

– unzureichende Darstellung

– veraltete Methodik

– keine völlig zwingende

– problematisch können geänderte Diagnosekriterien sein

– Erkenntniswert ist gering, weil Umstände geändert

– Verallgemeinerbarkeit zweifelhaft

– mangelnde Relevanz oder evtl. schon publizierte Themen

– wenn zu Frage und Methodik unterdessen schon Publikationen vorliegen

– wenn die Entwicklung in einem Feld die Fragestellung und die Daten überholt hat

– wenn sich Versorgungsstrukturen oder Rahmenbedingungen geändert haben

– wenn neuere oder bessere Daten von vergleichbaren Samples vorliegen

– Auswertungsmethoden veraltet

– Therapieansatz nicht mehr interessant

– wenn Daten überholt sind oder nicht nachvollziehbar ist, warum die Publikation später erfolgt ist

– Veränderung von diagnostischen Kategorien

– Methodenfortschritte

– mangelnde Transparenz

neuere Diagnosekriterien, Rahmenbedingungen, Methoden, Daten

Erhebung: Februar 2012; Rücklauf: n = 15 (56 %)