Laryngorhinootologie 2000; 79(S2): S23-S51
DOI: 10.1055/s-2000-15917
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zur Rekonstruktion des Schallleitungsapparates unter biomechanischen Gesichtspunkten

Biomechanics of Middle Ear ReconstructionK.-B. Hüttenbrink
  • Univ.-HNO-Klinik Dresden
Further Information

Publication History

Publication Date:
31 December 2000 (online)

Biomechanics of Middle Ear Reconstruction

Restoration of sound conduction towards the inner ear is a major goal of middle ear surgery in addition to the eradication of destructive processes. As the tympanic membrane is responsible for the transformation of the air-borne sound into vibration of solid bodies, its acoustic quality is of paramount importance. From an acoustical point of view, this membrane should be thin and soft, similar to the natural tympanic membrane with a thickness of 100μm. However, in chronic tubal dysfunction such a delicate membrane will not provide sufficient resistance against the constant negative pressure. To prevent retraction in these cases, cartilage with its higher degree of stability is often used for replacement of the tympanic membrane. The thickness and composition of a cartilaginous tympanic membrane should represent a compromise between sufficient stability and adequate acoustic sensitivity. Effective sound transport to the inner ear requires a reconstructed ossicular chain, which can vibrate without restraint. A loose contact will result in decreased efficiency. The solid anchoring of a prosthesis to the ossicular remnants also prevents postoperative slipping off its contacts, which could lead to a drastic loss in energy transport.

Einleitung

Die Sanierung eines entzündlich zerstörten Mittelohres gelingt heutzutage in einem mehr oder weniger zufriedenstellenden Ausmaß. Viele Ohren werden trocken, die chronische Entzündung sistiert mit Hilfe moderner Operationsverfahren, wobei der Individualisierung, dem Verzicht auf dogmatische Operationsvorschriften (z. B. Radikalhöhle, vs. 2-Wege-Technik) sicherlich der größte Einfluss für diese Verbesserung der Resultate zuzuschreiben ist [1 - 3]. Eine ebenso gute Prognose lässt sich für die Wiederherstellung des Hörvermögens eines entzündlich zerstörten Mittelohrs leider nicht stellen. Zwar sind seit der Einführung der Tympanoplastik vor fast 50 Jahren mittlerweile über 70 verschiedene Prothesenmaterialien [4 - 6] in aufwendigen Tier- und klinischen Versuchen zum Einsatz gekommen und weitere werden zu erwarten sein. Doch eine Garantie für eine gute akustische Mittelohrfunktion können auch die nach neuesten biotechnologischen Gesichtspunkten gefertigten Prothesen nicht versprechen. Zu viele implantat-fremde Faktoren beeinflussen das postoperative Hörergebnis. Allenfalls die Knorpelabdeckung der Prothesenoberfläche scheint insbesondere bei bioinaktiven Implantaten die Perforationsgefahr durch das Trommelfell und damit den Funktionsverlust zu verringern [1]. Minderwertige Schleimhautverhältnisse mit Ergussbildung oder Fibrosierung und Narbenbildung in der Paukenhöhle setzen die Schwingungsfähigkeit des rekonstruierten Schallleitungsapparates derartig herab, dass selbst bei einer technisch perfekten akustischen Rekonstruktion ein unbefriedigendes Hörergebnis resultieren kann. Auf Grund des winzigen Energieinhaltes der anregenden Schallwellen - der Schalldruck beträgt an der Hörschwelle weniger als 1 Milliardstel bar (s. Abb. 1) - reicht bereits eine geringe Fesselung der schwingenden Strukturen aus, um die Schallübertragung wirksam zu behindern.

Aber auch in reizlos ausgeheilten Mittelohren, wenn das rekonstruierte Trommelfell zart und luftumspült eine unbehinderte Schallaufnahme vermuten lässt, sind die postoperativen Hörergebnisse zu oft unbefriedigend. In diesen Fällen ist zwar die Entzündung saniert, aber wahrscheinlich die Rekonstruktion der akustischen Funktion des Schallleitungsapparates misslungen.

Diese funktionellen Misserfolge bewirkten in den letzten Jahren eine erhebliche Steigerung des Interesses der Ohrchirurgen an den mechano-akustischen Grundlagen ihrer ohrchirurgischen Eingriffe. Voraussetzung für eine erfolgreiche Mittelohrrekonstruktion ist das Verständnis der akustischen Funktion, nicht nur des rekonstruierten, sondern auch des normalen Mittelohres. In Anbetracht der winzigen Dimension der Vibrationen beim Schalltransport, die an der Hörschwelle kleiner sind als der Durchmesser des Wasserstoffmoleküls [7], ist der Ohrchirurg für die Erforschung der Mittelohrfunktion auf die Mitarbeit des Akustik-Ingenieurs angewiesen. Internationale Kongresse zur Mechanik des Mittelohres, 1996 erstmals in Dresden [8] und als Fortsetzung 1999 in Boston, USA, haben Ohrchirurgen und Ingenieure zusammengeführt, um gemeinsam das komplexe Verhalten des Mittelohres zu verstehen und dies zur Grundlage der Weiterentwicklung akustisch-optimierter Mittelohrrekonstruktion zu machen. Es ist zu hoffen, dass dieser Gedankenaustausch die Entwicklung der rekonstruktiven Ohrchirurgie ebenso befruchtet, wie dies den seit vielen Jahren stattfindenden internationalen Cholesteatom-Kongressen für die Weiterentwicklung der Behandlung der chronischen Otitis media gelungen ist. Eine ausführliche Übersicht über unser derzeitiges Wissen zur Mittelohrmechanik des normalen, pathologischen und rekonstruierten Mittelohres ist in dem Verhandlungsband des Dresdner Symposiums [8] zusammengefasst.

In den letzten Jahren hat zudem der technische Fortschritt der Untersuchungsmethoden entscheidend zur Entschlüsselung der Mittelohrfunktion beigetragen. Moderne lasergestützte Messtechniken erlauben ob ihrer hohen Empfindlichkeit die Untersuchung des Schwingungsverhaltens im physiologischen Arbeitsbereich des Mittelohres [9, 10]. Diese Laser-Doppler-Vibrometer befreien den Mittelohrforscher von den früheren Umständen einer fast unerschwinglichen und nur mit großem Aufwand einsetzbaren Untersuchungstechnik (Squid-, Mössbauer-Verfahren etc.), die für die Messung der fast unvorstellbar kleinen Amplituden beim Hören erforderlich war. Auch die strikte Trennung der akustischen Funktion des Mittelohres gegenüber seinem Verhalten bei atmosphärischen Luftdruckänderungen [11] hat das Verständnis über die Arbeitsweise des Mittelohres verbessert. Heutzutage dürfte es nicht mehr passieren, dass mikroskopisch oder endoskopisch sichtbare Vibrationen des Schallleitungapparates, die durch extrem laute Schallbelastung ausgelöst wurden, als normale Bewegungen des Schallleitungsapparates beim Hören interpretiert werden. Denn die Vibrationsamplituden im linearen, d. h. physiologischen Arbeitsbereich des Mittelohres unterhalb ca. 100 dB spielen sich in Größenordnungen von wenigen Nanometern ab. Sie sind wesentlich kleiner als die Wellenlänge des sichtbaren Lichtes und somit auch mit stärkster optischer Vergrößerung nicht mehr visuell wahrnehmbar. Falls Bewegungen des Trommelfells oder der Ossikel im akustisch angelegten Experiment sichtbar werden, so ist dies ein Hinweis auf unphysiologisch große Bewegungen (bzw. auslösende Lautstärken). Bei diesen großen Drücken oder Bewegungen kommt es zu Entkopplungen und Gleitvorgängen in den bei Übertragung von physiologischen Lautstärken normalerweise aneinander haftenden Gelenken. Ausführlich ist dieses Zusammenspiel der beiden unterschiedlichen Funktionsbereiche des Mittelohres, nämlich der akustischen Übertragung und des Verhaltens bei atmosphärischen Luftdruckschwankungen, in dem Referat 1995 abgehandelt worden [11].

Einen weiteren Fortschritt stellt der Einsatz moderner Computertechnologien für die Erforschung der Mittelohrfunktion und zur Weiterentwicklung unserer Rekonstruktionsverfahren dar. Das Ziel vieler Generationen von Mittelohrforschern, mittels Modellrechnungen die Funktionen des Mittelohres besser zu verstehen, ist mit dem Einsatz von Programmen aus der mechanischen Schwingungsanalyse, die ein Finite-Elemente-Computermodell des schwingungsfähigen Mittelohrs erzeugen, greifbar nahe gerückt. Auf Grund der großen" Bedeutung dieser Technik für die zukünftige Mittelohrforschung soll dieses Verfahren in einem gesonderten Kapitel am Schluss des Referates dargestellt werden. Es wurde mit Hilfe von Herrn M. Bornitz, Mitarbeiter am Mittelohrlabor der HNO-Universitätsklinik Dresden, erstellt.

Prof. Dr. med. Karl-Bernd Hüttenbrink

Univ.-HNO-Klinik

Fetscherstraße 74
01307 Dresden

    >