Handchir Mikrochir Plast Chir 2006; 38(2): 73-74
DOI: 10.1055/s-2006-924022
Nachruf

Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Jörg Böhler, geboren 15. Dezember 1917 - gestorben 11. Dezember 2005

Jörg Böhler, December 15, 1917 to December 11, 2005W. Hintringer1
  • 1Abteilung für Unfall- und Handchirurgie, Humanis-Klinikum Niederösterreich, Korneuburg, Österreich
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Eingang des Manuskriptes: 1.3.2006

Angenommen: 1.3.2006

Publication Date:
05 May 2006 (online)

Am 11. Dezember 2005, vier Tage vor seinem 88. Geburtstag, ist Jörg Böhler verstorben. Der „junge Böhler“, wie er zur Unterscheidung von seinem Vater Lorenz Böhler, dem Begründer der Unfallchirurgie als selbstständiges chirurgisches Fach, bis ins hohe Alter hinein genannt worden war. Die Bezeichnung „junger Böhler“ ist über diese Unterscheidung hinaus aber zugleich der höchste Ehrentitel für seine Person, hat er doch seine jugendliche Aufgeschlossenheit für neue Ideen, seinen scharfen Verstand und seinen hellwachen Geist bis zum letzten Tag seines Lebens bewahrt, ein beispielhafter Triumph über den durch ein Krebsleiden und dessen konsequente Behandlung bedingten fortschreitenden körperlichen Verfall. Diesen quittierte er vielmehr mit Ärger über die Behinderung denn mit Klagen. Aus Atemluftmangel nur mehr wenige Schritte gehfähig, hat er noch vier Wochen zuvor vom Rollstuhl aus seinen letzten Wiener Handkurs geleitet, in dem er wie immer die meisten Vorträge selbst hielt, selbstredend zum allerletzten „state of the art“.

Jörg Böhler wurde am 15. Dezember 1917 in Gries bei Bozen als Sohn von Lorenz Böhler und seiner Frau Leopoldine geboren. Er besuchte in Wien das Schottengymnasium und maturierte dort 1935. Medizin studierte er in Innsbruck und Wien. 1941 promovierte er zum Doktor der gesamten Heilkunde.

Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begab er sich mit Hans Hass auf eine Expeditionsreise für Unterwasserfilme und -fotografie nach Curaçao im damaligen Niederländisch-Westindien. Am 1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus, sodass die Rückreise in die Heimat vorläufig blockiert erschien. Die abenteuerlustigen jungen Männer schlugen sich jedoch über New York - Hawaii - Peking - Russland und schließlich mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Wien durch. Wer bereits einen der legendären Unterwasserfilme von Hans Hass gesehen hat, wird unschwer im blonden Hünen, der die Haie mit dem Handspeer erlegte und laut Gerüchten es vier Minuten unter Wasser aushielt, Jörg Böhler erkennen.

Als er dann wenig später zur Luftwaffe eingezogen wurde, sollte er zu seinem Einsatzort in Russland mit einer He 177, die durch die Umkonstruktion vom Langstreckenbomber zur sturzkampftauglichen Superkonstruktion wurde (fünf Flieger stürzten ohne Feindeinwirkung in kürzester Zeit ab), geflogen werden. Auch seine Maschine stürzte ab. Er war einer der fünf Überlebenden und zog sich dabei vierzehn Knochenbrüche zu, die er Dank seiner hervorragenden körperlichen Konstitution überlebte. Als Ironie des Schicksals endete auch der Rückflug in die Heimat mit einer neuerlichen Bruchlandung, welche die inzwischen eingetretene Kallusbildung der vierzehn Brüche nicht mehr beeinflussen konnte. Nach der Rückkehr aus Russland begann seine unfallchirurgische Ausbildung am Unfallkrankenhaus Wien, bei seinem Vater Lorenz Böhler und Prof. Schönbauer bis April 1945. Durch die Wirren des Krieges dauerte die Ausbildung schließlich bis 1950. 1947 heiratete er seine Susi, geb. Foest-Monshoff, die ihm immer mit ungeheurer Contenance zur Seite stand. Die Hochzeitsreise wurde im Schlosshotel am Wörthersee verbracht, wo der junge Ehemann das von seinem Vater mitgegebene Buch „Surgery of the Hand“ von Sterling Bunnell so interessant fand, dass er demselben, da er bei ihm hospitieren wollte, laut Anekdote einen Brief mit folgendem Inhalt schrieb: „A greater part of my honeymoon, I spent reading your book“, wobei die Betonung nur auf einem Teil der Hochzeitsreise ruht, muss vom Chronisten angemerkt werden. Bunnell schrieb ihm zurück: „This letter is the greatest compliment …“ und forderte Jörg Böhler auf, zu ihm zu kommen. Die Liebe zur Handchirurgie war erwacht.

Bunnells Buch „Surgery of the Hand“, das wenig später von Böhler ins Deutsche übersetzt wurde, war damals eines der ersten grundlegenden, handchirurgischen Werke im deutschsprachigen Raum.

1951 wurde er Primarius am Unfallkrankenhaus Linz. 1957 erhielt er die Venia legendi an der Universität Wien und wurde 1964 zum außerordentlichen Professor ernannt. Das Thema seiner Habilitationsschrift lautete „Die Versorgung frischer Handverletzungen mit besonderer Berücksichtigung der Sehnenverletzungen“.

Es ist müßig, hier von seinen zahlreichen Vorträgen (500) und Veröffentlichungen (360) zu berichten. Auch die Mitgliedschaften in unzähligen Gesellschaften brauchen nicht extra erwähnt zu werden. Ein Vortrag, den er 1969 in Kalifornien an der Universität von San Francisco hielt, scheint erwähnenswert: Von den Amerikanern schon damals zur „Sterling Bunnell Memorial Lecture“ geladen zu werden, zeugt von seiner internationalen Anerkennung im handchirurgischen Bereich. Diese Lesung wurde vor ihm von berühmten Handchirurgen wie Moberg, Pulvertaft, Lipscomb, Littler, Riordan und Seddon gehalten.

Sein größter Verdienst liegt aber zweifelsohne in der Ausbildung des handchirurgischen Nachwuchses von halb Europa. Seit 1958 hielt Jörg Böhler handchirurgische Fortbildungskurse. Die so genannten „Wiener Handkurse“ wurden über alle Grenzen hinaus, nicht nur im deutschsprachigen Europa bekannt. Das besondere an diesen Kursen war die Didaktik seiner Vorträge, unterstützt durch „hands on training“ an frischen, kältekonservierten Leichenhänden. Auch die Präsentationstechnik, die Böhler bereits seit 1958 durchführte, damals noch mit Schwarz-weiß-Video-Direktübertragungen aus dem Operationssaal, ist legendär.

Wenn man die alten Handkursteilnehmerlisten durchforstet, findet man dort illustre Namen wie Manninger, Poigenfürst, Schweiberer, Klaus Wilhelm und viele andere, die heute bereits in ihren verdienten Ruhestand getreten sind.

An seinem 80. Geburtstag nahmen 80 Teilnehmer am 80. Handkurs teil. 5000 lernwillige Chirurgen haben in den letzten 45 Jahren seine Kurse besucht.

Im Dezember 1970 übersiedelte er an sein „Lorenz-Böhler-Krankenhaus“ in Wien, das er bis 1983 leitete. Jörg Böhler war kein einfacher Chef. Seine hierarchischen Strukturen, vom Vater geerbt, brachten so manchen seiner Ärzte auf den harten Boden der Realität zurück. So wie Lorenz Böhler in seinen Büchern mit dem geflügelten Wort „zu machen ist“ in einer Checkliste festlegte, was in welchem Fall zu tun ist, war auch unter Jörg Böhler die Variationsmöglichkeit der eigenen Entscheidung durch strikte Vorgaben weitgehend eingeschränkt.

Jeder wusste zu jeder Zeit und in jeder Situation, was er zu tun hatte. Das steigerte die Effektivität und die Kontinuität der Behandlung enorm. Es gab keine methodischen Streitigkeiten. War jemand anderer Meinung, wurde er durch eine Flut von Literaturzitaten, die Jörg Böhler aus seinem präzisen Gedächtnis holte, mit Seiten und Jahrgangsangaben des entsprechenden Journals in die Schranken gewiesen.

Jörg Böhler hasste Dummheit, Ungenauigkeit, Faulheit und die so genannte „Indolentia gravis“. „Da könnt ja a jeder kommen, das war noch nie da“, war ein rotes Tuch für ihn.

Jörg Böhler war ein Herr. „Ein Herr trägt Krawatte, wenn er reist.“ Ein geflügeltes Wort, das er uns immer wieder nahebrachte, wenn wir die Etikette missachteten. Die Etikette wurde in jeder Situation mit Unterstützung seiner Frau Susi eingehalten.

Jörg Böhler war ein Mann mit humanistischer Bildung. Er war bis zum letzten Tag zu fast jedem Thema rezent informiert.

Jörg Böhler war ein Mann mit Prinzipien. Auf Kongressreisen, wie er betonte, führt der Herr mit offensichtlich „schlechten Erfahrungen“ seine Dias, eine Zahnbürste, Seife und eine Unterhose im Handgepäck mit sich.

Noch wenige Tage vor seinem Tod besuchten wir ihn, Martin Leixnering und ich, nach einem Symposium in Zürich. Obwohl man ihm ansah, dass sein Körper ihm langsam den Dienst versagte, war sein aufmerksamer Geist ungebrochen, und er wollte wie immer jedes Detail wissen, ob es was Interessantes, und ob es was Neues gegeben hätte.

Den nahen Tod ahnend, meinte er am letzten Handkurs, er würde heute seinen „Schwanengesang“ halten und gab uns den Auftrag, den Handkurs in seinem Sinne fortzuführen. Der Basiskurs wird in Zukunft „Jörg-Böhler-Kurs“ heißen.

Wir werden ihn stets in Erinnerung behalten, seine Ziele hochhalten und seinen Prinzipien, die er uns immer mit Begeisterung vorgelebt hat, weiter folgen.

Wolfgang Hintringer, Wien

Dr. med. Wolfgang Hintringer

Abteilung für Unfall- und Handchirurgie
Humanis-Klinikum Niederösterreich

Wiener Ring 3 - 5

2100 Korneuburg

Österreich

Email: w.hintringer@nextra.at

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