Dtsch Med Wochenschr 2011; 136(18): 934
DOI: 10.1055/s-0031-1278429
Aus der Cochrane Library – für die Praxis
Allgemeinmedizin
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sind Placebo wirklich nützlich?

S. Krome
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Publication Date:
27 April 2011 (online)

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Die Bedeutung von Scheinbehandlungen ist umstritten. Die inadäquate Untersuchungsmethodik vieler früherer Studien legt nahe, dass positive Effekte möglicherweise als Artefakt einzustufen sind. Die Nordic Cochrane Group analysierte deshalb nochmals die Ergebnisse unter Einschluss neuerer Untersuchungen.

Einleitung: Resultate der Cochrane Reviews aus 2001 und 2004 waren, dass Placebo keine klinisch bedeutsamen Effekte hatten. Aus Patientensicht ergaben sich aber mögliche positive Wirkungen vor allem für die Behandlung chronischer Schmerzen. In den meisten Untersuchungen fehlte jedoch der Vergleich von Placebo mit einer Nicht-Behandlung.

Studien: Jetzt wurden randomisierten Studien erfasst, die Placebo mit einer Nicht-Behandlung verglichen. Von 1215 Untersuchungen erfüllten 202 die erforderlichen Kriterien. Typische Placebo waren Laktosetabletten, aber auch physikalische Methoden (Schein-Akupunktur, simulierte Nervenstimulation u.a.) oder auch psychologische Interventionen (”attention placebo“) kamen vor. Die 60 klinischen Situationen, für die Placebo verordnet wurden, waren sehr vielfältig. Hypertonie und Diabetes waren ebenso Indikationen wie Bulimie, Schizophrenie, Alkoholabusus oder aphthöse Ulzerationen. Besondere Analysen erfolgten für 11 Problemsituationen, die in mindestens 3 Studien behandelt wurden.

Ergebnisse: Bedeutsame klinische Effekte der Placebo-Therapie ließen sich insgesamt nicht nachweisen. Bei Untersuchungen mit binärem Design (6041 Patienten) ergab sich keine statistisch relevante Wirkung für Schmerz, Übelkeit, Rauchen und Depression. Zwischen großen und kleinen Studien bestand bei mäßiger Heterogenität kein Unterschied. Die Wirkung einer Schmerz-therapie mit Placebo variierte erheblich. Untersuchungen mit kontinuierlichem Design (10525 Patienten) wiesen ebenfalls eine nur mäßige Heterogenität auf. Stärkere Placebo-Effekte ergaben sich häufiger aus kleinen als aus größeren Studien. Insgesamt führten Placebo-Behandlungen zu geringen positiven Wirkungen (mittlere Standardabweichung SMD -0,23; 95%-KI -0,28 bis -0,17), wobei sich die meisten Probleme nicht mit Placebo besserten. Geringe positive Effekte ergaben sich für Schmerzen (SMD -0,28; 95%-KI -0,36 bis -0,19) und Übelkeit (SMD -0,25; 95%-KI -0,46 bis -0,04) und fraglich für Asthma und Phobien. Keine Wirkung hatten Placebo bei Nikotinabusus, Demenz, Depression, Fettleibigkeit, Hypertonie, Schlaflosigkeit und Angstzuständen. Drei Faktoren beeinflussten die Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg der Placebo: physikalische Methoden, Unkenntnis der Patienten und die individuelle Patientenmeinung.

Fazit und Diskussion

Die Autoren schließen aus den Ergebnissen, dass Placebo in den allermeisten klinischen Situationen nicht hilfreich sind und nicht wesentlich zu einer Besserung von Beschwerden beitragen. Die Effekte in der Schmerztherapie seien schwierig zu interpretieren und vor allem sehr unterschiedlich: von vernachlässigbar bis klinisch bedeutsam. Placebo wirkten am ehesten, wenn die Patienten nicht darüber unterrichtet waren, möglicherweise ein Placebo zu erhalten, wenn manuelle Eingriffe wie Schein-Akupunkturen erfolgten und wenn die Patientenbeobachtung das primäre Beurteilungskriterium war.

Dr. med. Susanne Krome, Melle

Kommentar

In Medikamentenstudien ist die Verbesserung der klinischen Symptomatik unter Placebogabe immer die kombinierte Wirkung von drei Faktoren: unspezifische Effekte unbekannter und/oder nichtkontrollierter Faktoren (Jahreszeiten, Selektionsbiases, Messfehler etc.), die spontane Besserung der Symptome, die auch ohne Behandlung aufgetreten wären, und ein spezifischer Faktor ”Placeboeffekt“ (Zuwendung, Erwartungsreaktionen, Konditionierung) - alle drei werden üblicherweise zusammengefasst unter dem Begriff ”Placeboresponse“ (Placeboantwort). Die Placebo-antwort ist daher erwartungsgemäß größer als der Placeboeffekt, und kontrolliert man – wie in der Meta-Analyse von Hróbjartsson et al. – den Spontanverlauf einer Krankheit durch ”no treatment“-Kontrollgruppen (was unter ethischen Gesichtspunkten nicht immer zulässig ist), wird ersichtlich, dass der Placeboeffekt in vielen Fällen erheblich geringer ist als es die klinische Besserung im Placeboarm der Studien erwarten lässt. Die Meta-Analysen löst jedoch eine wichtige Frage nicht: wie groß ist der Placeboeffekt, wenn das gleiche Medikament (oder ein Placebo) im klinischen Alltag eingesetzt wird? Der Einsatz von Placebos im medizinischen Alltag ist – wenngleich häufig (Fässler et al. BMC Medicine 2010;8:15) – ethisch problematisch, da er eine Täuschung der Patienten bedeutet. Eine offene Placebobehandlung ohne Täuschung verliert allerdings nicht zwingend ihre Wirksamkeit (Kaptchuk et al. PlosOne 2011,5:e15591), wobei dies sicherlich abhängig ist von der Art und Schwere der Erkrankung. Eine vermehrte und bessere Nutzung des Placeboeffekts im klinischen Alltag, wie es die Bundesärztekammer gerade gefordert hat (Placebo in der Medizin, Deutscher Ärzte-Verlag Köln 2011) bedeutet daher nicht, mehr Placebos einzusetzen, sondern die bewusste Nutzung der Mechanismen, die für den Placeboeffekt verantwortlich sind: Zuwendung, Empathie, Kommunikation, Lernen. Eine Untersuchung der Bedeutung dieser Faktoren für den medizinischen Alltag wird den Folgerungen von Hróbjartsson et al. widersprechen.

Prof. Dr. Paul Enck, Universitätsklinikum Tübingen

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Originalarbeit

  • 1 Hróbjartsson A, Gøtzsche P C. Placebo interventions for all clinical conditions.  Cochrane Database of Systematic Reviews. 2010, Issue 1, Art. No.: CD003974 DOI: 10.1002/14651858.CD003974.pub3 www.thecochranelibrary.com
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Originalarbeit

  • 1 Hróbjartsson A, Gøtzsche P C. Placebo interventions for all clinical conditions.  Cochrane Database of Systematic Reviews. 2010, Issue 1, Art. No.: CD003974 DOI: 10.1002/14651858.CD003974.pub3 www.thecochranelibrary.com