Dtsch Med Wochenschr 2011; 136(47): 2402
DOI: 10.1055/s-0031-1292062
Aus der Cochrane Library – für die Praxis
Geriatrie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ältere Notfallpatienten profitieren von einem geriatrischen Assessment

Older emergency patients benefit from geriatric assessment
C. H. R. Wiese
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Korrespondenz

Priv.-Doz. Dr. med. Christoph H. R. Wiese
Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Regensburg

Publication History

Publication Date:
17 November 2011 (online)

 

    Eine 1993 veröffentlichte Meta-Analyse lieferte das Rahmenkonzept für stationäre sowie ambulante Modelle eines multidimensionalen geriatrischen Assessments. Seither wurden diverse Studien und Meta-Analysen veröffentlicht, die jeweils verschiedene Aspekte dieses Assessments beleuchten. Ellis und seine Kollegen sahen nun die Zeit reif für ein Review.


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    Einleitung: Das umfassende geriatrische Assessment ist ein multidimensionales und interdisziplinäres diagnostisches Mittel, um medizinische, psychologische, funktionelle sowie soziale Fähigkeiten gebrechlicher älterer Personen abzuschätzen. Anhand dieser Beurteilung kann ein ganzheitlicher Plan sowohl für die akute Behandlung als auch für die Nachsorge erstellt werden. Das Cochrane Review sollte die Effektivität eines solchen geriatrischen Assessments für ältere Notfallpatienten (Alter ≥ 65 Jahre) gegenüber einer routinemäßigen Akutbehandlung im Krankenhaus klären.

    Studien: Die Autoren schlossen 22 randomisierte kontrollierte Studien mit 10 315 Patienten aus sechs verschiedenen Ländern in das Review ein. Jegliche Notfälle gingen in die Studien ein, ungeachtet der Art des zugrundeliegenden Problems. Als primären Endpunkt definierten Ellis et al., ob die Patienten zu Hause leben. Dies zeigt, dass kein Tod oder keine Institutionalisierung des Patienten vorlag. In Subgruppen-Analysen verglichen die Autoren außerdem die Effektivität eines geriatrischen Assessments auf einer spezialisierten Station gegenüber eines geriatrischen Assessments durch mobile Teams.

    Ergebnisse: Sowohl 6 als auch 12 Monate nach der Notfalleinweisung war es für die Patienten mit geriatrischen Assessment wahrscheinlicher am Leben zu sein und Zuhause zu leben als für die Patienten die keins erhalten hatten (Odds Ratio [OR] 1,25; 95 %–Konfidenzintervall [KI] 1,11– 1,42; p=0,0002 bzw. OR 1,16, 95 %-KI 1,05-1,28; p=0,003). Dies entspricht einer Anzahl notwendiger Behandlungen (number-needed-to-treat, NNT) von 17 nach sechs Monaten bzw. 33 nach zwölf Monaten, um einen Tod oder eine Institutionalisierung abzuwenden. Subgruppenanalysen zeigten, dass dieser Effekt wesentlich durch Studien mit geriatrischem Assessment auf spezialisierten Stationen beeinflusst ist (OR 1,31; 95 %– KI 1,15–1,49; NNT=13). Erfolgte das geriatrische Assessment nur durch ein mobiles Team, zeigte sich kein signifikanter Effekt (OR 0,84; 95 %–KI 0,57–1,24; p=0,39). Auch bezüglich des sekundären Endpunktes der Institutionalisierung ergab sich ein Vorteil der Patienten mit geriatrischem Assessment (OR 0,79, 95% KI 0,69–0,88, p < 0,0001), wobei ein mobiles geriatrisches Assessment weniger Wirkung zeigte. Trotz der unterschiedlichen Qualität der Studien gehen die Cochrane- Autoren von einem insgesamt geringen bis mittleren Risiko der Datenverzerrung (Bias) aus.

    Fazit der Cochrane Autoren

    Die Autoren sehen anhand des gefundenen Vorteils eines umfassenden geriatrischen Assessments eine ausreichend rechtfertigende Grundlage, den medizinischen Notfallbetrieb – sofern möglich – umzustrukturieren. Die Wissenschaftler sehen keine Rechtfertigung für weitere Studien zum Vergleich eines geriatrischen Assessments gegenüber einer Routinebehandlung. Stattdessen seien weitere Studien zur Effektivität verschiedener Assessmentformen sinnvoll. Auch seien weiterführende Fragen zu klären, wie zum Beispiel welche Patienten am ehesten davon profitieren oder zu welchem Zeitpunkt dieses am besten erfolgen sollte.

    Dr. med. Bettina Rakowitz, Sachsen bei Ansbach

    Originalarbeit: Ellis G et al. Comprehensive geriatric assessment for older adults admitted to hospital. Cochrane Database of Systematic Reviews 2011, Issue 7. DOI: 10.1002/14651858.CD006211.pub2 http://www.thecochranelibrary.com

    Kommentar aus der Praxis

    Der Notfalleinsatz bei einem geriatrischen Patienten sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Betreuung beinhaltet oftmals sowohl eine Akutbehandlung als auch eine Folgebehandlung in der Klinik, die dem individuellen Patienten und seinen Bedürfnissen und Wünschen nicht immer entspricht. Aus diesem Grund ist ein antizipierendes geriatrisches Assessment mittels eines multidimensionalen Ansatzes, der sowohl medizinische, psychologische, soziale als auch funktionelle Fähigkeiten des alten Patienten berücksichtigt von besonderer Bedeutung für eine schnelle und zielgerichtete Behandlung. Die Cochrane-Autoren beschreiben in ihrem Review eindrücklich die Vorteile eines solchen Systems und fordern berechtigt, solche Systeme auf ihre individuelle Effektivität zu untersuchen und somit ein optimiertes gegebenenfalls auch auf nationale typische Strukturen anzupassendes Assessment zu entwikkeln. Für den geriatrischen Notfallpatienten aber auch für den Notfallmediziner kann ein derartig optimiertes System sicher zahlreiche Vorteile in der akuten Therapiesituation erbringen. Außerdem ist für die weiteren an der Vorsorgung beteiligten Institutionen und Personen gewiss eine patientenorientierte Therapie erleichtert.

    Priv.-Doz. Dr. med. Christoph H. R. Wiese Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Regensburg

    Interessenkonflikte: keine


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    Korrespondenz

    Priv.-Doz. Dr. med. Christoph H. R. Wiese
    Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Regensburg