Dtsch Med Wochenschr 2011; 136(47): 2403
DOI: 10.1055/s-0031-1292063
Aus der Cochrane Library – für die Praxis
Onkologie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tumorkrankheit, Thromboembolien und antithrombotische Therapie: Gibt es ein Antikoagulans der Wahl?

Cancer, thromboembolia and antithrombotic therapy: is there an anticoagulant of choice?
R. E. Scharf
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Korrespondenz

Univ.-Prof. Dr. med. Rüdiger E. Scharf
Institut für Hämostaseologie, Hämotherapie und Transfusionsmedizin, Düsseldorf

Publication History

Publication Date:
17 November 2011 (online)

 

    Krebs erhöht das Risiko für venöse Thromboembolien (VTE) um das 4- bis 6-Fache. Ursache der tumorassoziierten VTE (Trousseau-Syndrom) ist eine abnorme Gerinnungsaktivierung. Die tumorbedingte Hyperkoagulabilität könnte die Wirksamkeit von Antikoagulanzien und die Blutungsgefahr beeinflussen. So weisen Krebspatienten, die wegen einer VTE antikoaguliert sind, trotz dieser Therapie eine 2- bis 3-fach höhere Rate an Rezidivthrombosen im Vergleich zu Patienten mit VTE ohne Malignom auf. In zwei Cochrane-Reviews wurde nun die Datenlage zur Wirksamkeit und Sicherheit verschiedener Antikoagulanzien bei Patienten mit Krebs analysiert.


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    Einleitung: Venöse Thromboembolien (VTE) sind eine häufige Komplikation bei Krebspatienten und mit erheblicher Zunahme an Morbidität und Mortalität verbunden. Neben der Tumorkrankheit erhöhen bestimmte Behandlungen (Chemound Hormontherapie, zentralvenöse Verweilkatheter, Portsysteme) das Thromboembolierisiko. Trotz Antikoagulation haben Krebspatienten zudem ein deutlich höheres Risiko an Rezidivthrombosen im Vergleich zu Patienten ohne Malignom. Diese hinlänglich bekannte Beobachtung veranlasste Akl und Mitarbeiter gleich zu zwei Cochrane-Analysen zur antithrombotischen Initialbehandlung und zur Langzeittherapie bei tumorassozierter VTE.

    Studien: Zur Beurteilung der Effektivität parenteraler Antikoagulanzien in der Initialphase (während der ersten 5 bis 10 Tage) wurden 16 randomisierte kontrollierte Studien in die Auswertung einbezogen. Hierbei wurden niedermolekulare Heparine (NMH), u.a. Dalteparin und Tinzaparin, mit unfraktioniertem Heparin (UFH) (13 Studien, 1016 Patienten) bzw. Fondaparinux verglichen. Die Beurteilung der antikoagulativen Langzeittherapie stützte sich auf 1908 Patienten aus 9 randomisierten Studien, in denen die parenterale Gabe von NMH gegenüber der Therapie mit Vitamin- K-Antagonisten (VKA) oder einem neuen direkten Thrombininhibitor geprüft wurde. Auswertungskriterien in beiden Analysen waren u.a. die Endpunkte Mortalität, Häufigkeit von Rezidivthrombosen und Blutungen.

    Ergebnisse: Bei der Initialtherapie reduzierten NMH vs. UFH die Mortalität innerhalb eines Nachbeobachtungsintervalls von 3 Monaten (Relatives Risiko [RR] 0,71; 95 %–Konfidenzintervall [KI] 0,52–0,98; p=0,038). Hingegen zeigte die Art des Heparins keinen Einfluss auf die Häufigkeit von Rezidivthrombosen. Fondaparinux erwies sich weder UFH noch NMH überlegen. Der direkte Vergleich zweier NMH (Dalteparin vs. Tinzaparin) ergab keinen signifikanten Unterschied in der Mortalität. Bei der Langzeittherapie hatte die Gabe von NMH im Vergleich zu VKA keinen signifikanten Einfluss auf das Überleben, senkte aber die Rezidivrate an VTE (Hazard Ratio [HR] 0,47; 95 %–KI 0,32–0,71; p=0,00031). Dabigatran zeigte gegenüber VKA in der einzigen hierzu vorliegenden Studie keinen Vorteil.

    Fazit der Cochrane Autoren

    Nach Auswertung der Studienlage favorisieren die Autoren für die Initialtherapie bei Krebs mit VTE, anstelle von UFH, den Einsatz von NMH, die sich günstig auf die Senkung der Frühmortalität nach VTE auswirken dürften, aber keinen Einfluss auf die Rezidivhäufigkeit zeigten. Für die Langzeittherapie bei Krebs mit VTE empfehlen die Autoren eine Nutzen-Risiko- Abwägung zwischen parenteraler und oraler Antikoagulation unter Einschluss des individuellen Patientenwunsches. Bei dieser Abwägung sei zu berücksichtigen, dass NMH zwar die Häufigkeit an VTE senkten, aber wegen der subkutanen Gabe von den Patienten weniger akzeptiert würden als VKA.

    Univ.-Prof. Dr. med. Rüdiger E. Scharf

    Originalarbeiten:

    1 Akl EA et al. Anticoagulation for the initial treatment of venous thromboembolism in patients with cancer. DOI: 10.1002/14651858.CD006650.pub5 Cochrane Database of Systematic Reviews 2011, Issue 6.

    2 Akl EA et al. Anticoagulation for the long-term treatment of venous thromboembolism in patients with cancer. DOI: 10.1002/14651858.CD006649.pub5. Cochrane Database of Systematic Reviews 2011, Issue 6. http://www.thecochranelibrary.com

    Kommentar aus der Praxis

    Das Thromboembolierisiko bei Krebspatienten, wenngleich seit Trousseaus Beobachtungen bekannt (Verlag JB Baillière, Paris 1865), wird im klinischen Alltag, allzumal bei ambulanter Behandlung, häufig unterschätzt. Dabei stellt „Tumorkrankheit“ eine eindeutige Thrombophilie dar mit der Konsequenz einer möglichst medikamentösen Prophylaxe bzw. adäquaten Antikoagulation nach bereits eingetretener VTE. Der Einsatz neuer antiproliferativer oder immunmodulatorischer Therapeutika mit thrombogener Potenz unterstreicht die Notwendigkeit einer individualisierten risikoadaptierten VTE-Prophylaxe. Diesem Sachverhalt tragen die aktuellen Leitlinien (inter)nationaler Fachgesellschaften Rechnung, in denen NMH zur Prophylaxe bzw. zur langfristigen Therapie tumorassoziierter VTE empfohlen werden (J Clin Oncol 2007; 25: 5490–5505; Thromb Res 2010; 125: S117–119, S128–S133; www.dghoonkopedia. de). Gegenüber einer Antikoagulation mit VKA werden NMH favorisiert, da sie bei vergleichbaren Blutungsrisiko zu einer signifikant niedrigeren Rezidivrate an VTE führen. Die beiden aktuellen Cochrane-Analysen bestätigen den Stellenwert der NMH sowohl für die Initialbehandlung als auch die langfristige Antikoagulation bei Tumorpatienten mit VTE und stützen damit die Empfehlungen gültiger Leitlinien. Keine Antworten vermögen die Autoren hingegen auf drängend interessierende Fragen zu geben, etwa zum Nutzen der VTE-Primärprophylaxe unter ambulanter Tumorbehandlung oder zur „zwingend“ adjuvanten Antikoagulation bei bestimmten Malignomen wie dem Pankreaskarzinom im fortgeschrittenen Stadium. Hierzu stehen valide Ergebnisse initiierter Studien noch aus, sodass derzeit lediglich individualisierte empirische Therapieabwägungen möglich sind. Der behandelnde Arzt bleibt also gefordert. Seine Verantwortung und patientengerechte Einschätzung therapeutischer Einflüsse auf die Lebensqualität können ihm Cochrane- Analysen ohnehin nicht abnehmen.

    Univ.-Prof. Dr. med. Rüdiger E. Scharf, Institut für Hämostaseologie, Hämotherapie und Transfusionsmedizin, Düsseldorf


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    Institut für Hämostaseologie, Hämotherapie und Transfusionsmedizin, Düsseldorf