Dtsch Med Wochenschr 2012; 137(41): 2086
DOI: 10.1055/s-0032-1329128
Aus der Cochrane Library – für die Praxis
Allgemeinmedizin – Infektiologie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neuraminidase-Inhibitoren: Wirkung weiterhin unklar

Neuraminidase inhibitors: effects still unclear
A. Gillissen
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Korrespondenz

Prof. Adrian Gillissen,
Klinik für Lungen- und Bronchialmedizin, Klinikum Kassel

Publication History

Publication Date:
02 October 2012 (online)

 

    Neuraminidase-Hemmer werden vielfach eingesetzt, um Grippesymptome zu lindern, die Übertragung zu verhindern und die Komplikationsrate zu senken. Die zugrundeliegenden Studiendaten konnten jedoch in einer systematischen Cochrane-Übersichtsarbeit nicht analysiert werden, denn 60 % der erhobenen Daten wurden niemals veröffentlicht.


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    Einleitung: Die Neuraminidase-Inhibitoren (NI) sind Bestandteil der WHO Model List of essential medicines. Im Zuge der Grippeepidemien der letzten Jahrzehnte lagerten Staaten diese weltweit ein (insbesondere Oseltamivir), Millionen Erwachsene und Kinder nahmen sie ein. In einem Cochrane-Review von 2010 zu NI hatten jedoch Jeffersson et al. eine erhebliche Verzerrung (Bias) der Datenlage durch Nichtveröffentlichung von Studien aufgezeigt und somit die Validität der Studienresultate in Frage gestellt. Die Recherche hatte damals ergeben, dass die positiven Bewertungen der NI hauptsächlich auf einer Meta-Analyse aus 10 Studien (Kaiser et al. 2003) beruhte, von denen aber 8 Studien entweder nur als Abstract oder gar nicht publiziert worden sind. Ziel des Updates 2012 war die Beurteilung der aktuellen Datenlage.

    Studien: Aufgrund der besonderen Datenlage zu NI wurden Angaben zu Versuchsreihen nicht per Literaturrecherche erfasst, wie sonst bei Cochrane-Analysen. Die Daten der Placebo-, randomisiert-kontrollierten, doppelblinden Studien wurden anhand von Protokollen, Berichten und Verträgen der Hersteller sowie aus nationalen Berichten der Arzneimittelzulassungsbehörden (EMA, FDA) rekonstruiert. In einem 2. Schritt sollte die Wirkhypothese zu NI überprüft werden.

    Ergebnisse: 15 randomisierte Studien zu Oseltamivir und 10 zu Zanamivir (klinische Studienberichte) erfüllten die Einschlusskriterien der Cochrane-Analyse. 42 Studien konnten wegen ungeklärter diskrepanter Daten und mangelnder Information nicht berücksichtigt werden. GlaxoSmithKline stellte die angeforderten Unterlagen zum inhalativen Zanamivir zur Verfügung. Daten zu Oseltamivir wurden trotz mehrfacher Anfrage bei Roche inkomplett offen gelegt, sodass die ursprünglich vorgesehene Analyse nicht möglich war. Die Analyse der verfügbaren Daten ergab, dass Oseltamivir die durchschnittliche Dauer von Beschwerdebeginn bis Symptombesserung (160 h) signifikant um etwa 21 h verkürzte (5 Studien; 95 %-Konfidenzintervall [KI] -29,5 bis -12,9; p<0,001). Krankenhausaufenthalte waren nicht signifikant seltener als in der Placebogruppe (Odds Ratio [OR] 0,95; 95 %-KI 0,57–1,61; p=0,86; 7 Studien). Zudem hatten mit Oseltamivir behandelte Patienten eine verminderte Wahrscheinlichkeit einer Influenzadiagnose (OR 0,83; 95 %-KI 0,73–0,94; p=0,003). Dieses Ergebnis (8 Studien) resultiere möglicherweise aus einer immunologischen Antwort auf Oseltamivir; bei Zanamivir war dies nicht feststellbar. Aussagen zur Komplikations- und Transmissionsrate waren aufgrund der unzureichenden Datenlage nicht möglich. Alle Primärstudien wurden von Herstellern finanziert.

    Fazit der Cochrane-Autoren

    Wie zuvor 2010 stellten die Autoren erhebliche systematische Fehler (Bias) bei den Studien zu Oseltamivir fest und kritisierten die Zurückhaltung der Hersteller bei der vollständigen Freigabe aller verfügbaren Ergebnisse. Die Beurteilung der Komplikationsrate und eines Einflusses auf die Virustransmission war somit erneut nicht möglich. Verfügbare Daten zu Oseltamivir zeigten eine verkürzte Dauer der Grippesymptome, die Hospitalisierungsrate verminderte sich aber nicht.

    Dr. med. Susanne Krome, Melle

    Originalarbeit: Jefferson T et al. Cochrane Database of Systematic Reviews 2012, Issue 1 DOI: 10.1002/14651858.CD008965.pub3 www.thecochranelibrary.com

    Kommentar aus der Praxis

    Publizierte Oseltamivir- und Zanamivir-Studien zeigen, dass typische Influenzasymptome signifikant abgeschwächt und die Krankheitszeit um ca. einen Tag verkürzt werden – eine Medikamenteneinnahme innerhalb von 48 h nach Symptombeginn vorausgesetzt. Diese Cochrane-Analyse ist gerade wegen des restriktiven Verhaltens des einen Herstellers, Roche, interessant und lesenswert. Wenn tatsächlich 60 % aller Studiendaten nicht publiziert worden sind, Roche sich einer Aufklärung diskrepanter Studiendaten verweigert und ein Ungleichgewicht (Bias) in der Studienpopulation mit sogar fehlender Subgruppenvergleichbarkeit – wegen einer Oseltamivir-Inferferenz mit der Antikörperproduktion – bestanden haben soll, ist die tatsächliche Effektivität von Oseltamivir allerdings zu hinterfragen. Diese Aspekte ergaben sich in der systematischen Übersichtsarbeit bei Zanamivir nicht. Unklar ist z.B. warum sich die Symptome abschwächten, aber die Hospitalisierungsrate unverändert blieb.

    Diese Cochrane-Analyse wirft ernstzunehmende Fragen zur Wirksamkeit von Oseltamivir und zur Ehrlichkeit des Herstellers auf. Wegen dieser Probleme konnten die Cochrane-Autoren ihre Analyse auch nicht abschließen, womit es schwer fällt bezüglich der Influenzatherapie eine Empfehlung auszusprechen. Die Impfempfehlung der STIKO bleibt davon natürlich unbeeinflusst und gewinnt eher noch an Gewicht.


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    Interessenkonflikte: keine

    Korrespondenz

    Prof. Adrian Gillissen,
    Klinik für Lungen- und Bronchialmedizin, Klinikum Kassel