ergopraxis 2012; 5(11/12): 12-13
DOI: 10.1055/s-0032-1331000
wissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Evidenzbasierte Praxis (EBP) – Für die Klienten nur das Beste

Florence Kranz

Verantwortlicher Herausgeber dieser Rubrik:
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
16. November 2012 (online)

 

Mit dem Anspruch, auf Grundlage der besten Wissensquellen zu behandeln, kommt man an wissenschaftlicher Literatur nicht vorbei. Wer also EBP im Arbeitsalltag vertiefen möchte, für den hat Florence Kranz Anregungen am Beispiel CRPS I zusammengetragen.


#
Zoom Image
Grafik: C. Lackner

Evidenzbasierte Praxis ist nicht nur ein theoretisches Konstrukt. Sie kann Ergo-therapeuten darin unterstützen, fundierte Entscheidungen zu treffen. Besonders dann, wenn sie vor neuen Herausforderungen stehen.

Ob man in Fachzeitschriften blättert, einen Ergotherapiekongress besucht oder gesund-heitsbezogene Internetseiten durchstöbert: Immer wieder begegnet einem der Anspruch, Interventionen anhand von wissenschaftlichen Beweisen zu untermauern [1-3]. Therapeuten sollen demnach wissenschaftliche Evidenz gewissenhaft und vernünftig nutzen, um ihre Entscheidungen im Einzelfall begründen zu können [2]. Die sogenannte evidenzbasierte Praxis kann Ergotherapeuten also darin unterstützen, ihre Vorgehensweise zu untermauern. Sie bietet ihnen aber auch hilfreiche Denkanstöße, um ihre Clinical-Reaso-ning-Prozesse auf aktuelle Gegebenheiten wie die Lebenssituation oder Handlungsbedürfnisse eines Klienten abzustimmen. Grenzen im Therapieprozess können sie so leichter überwinden und neue Aufgaben besser bewältigen. Immer mit dem Ziel, dem Klienten die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen [4, 5].

Fragen aus der Praxis nachgehen

Nehmen wir einmal an, ein Klient entwickelt infolge einer Radiusfrakturein komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS Typ I). Hat man als behandelnde Ergotherapeutin mit dieser Symptomatik bisher noch keine Erfahrungen gesammelt, tauscht man sich vielleicht zunächst mit Kollegen aus oder sucht Rat in der Fachliteratur. Fachbücher schlagen mögliche Vorgehensweisen vor und berücksichtigen zunehmend die Studienlage [6]. Sie entsprechen aber nicht immer dem neuesten Stand und vernachlässigen mitunter die Klientenperspektive. Möchte man es daher genauer wissen, lohnt sich ein Blick in die Welt der Wissenschaft. Datenbanken wie Pubmed, OTDBASE oder ScienceDirect halten einen großen Pool an wissenschaftlichen Arbeiten bereit, um Licht in praxisrelevante Problemstellungen zu bringen. Bevor man mit der Recherche beginnt, sollte man sich eine konkrete Frage überlegen („Vorgehensweise in der EBP“). Zum Beispiel: Wie beeinflusst die CRPS I das subjektive Erleben eines Menschen?


#

Sichtweisen nachvollziehen

Mit qualitativen Studien kann man sich der Klientenperspektive annähern [7]. Bei einer Recherche in der Datenbank „ScienceDirect“ findet man mit den Schlüsselwörtern „Perception“ und „CRPS I“ beispielsweise eine Interviewstudie der Ergotherapeutin Jennifer Lewis und ihren Kollegen. Darin beschreiben 28 Klienten, wie sie ihren betroffenen Arm wahrnehmen und welche Gefühle sie ihm entgegenbringen. Demnach lehnen sie die krankhaft veränderte Extremität häufig ab, sie fühle sich an, als gehöre sie nicht zum Rest des Körpers. Missempfindungen und Schmerzen verzerren das innere Bild zusätzlich und erschweren es, die Position des Armes zu bestimmen [8].

Qualitative Studien wie diese besitzen zwar nur eine geringe Beweiskraft, sie können die behandelnde Ergotherapeutin aber darin unterstützen, sich besser in die Situation ihres Klienten einzufühlen (Abb.). Eine angemessene Beziehung kann sie so leichter zu ihm aufbauen. Zudem lassen sich die qualitativen Ergebnisse oftmals durch quantitative Studien bekräftigen [9, 10].


#

Zusammenhänge erkennen

Bleibt die Frage, wie sich eine CRPS I auf die Alltagsaktivitäten eines Klienten auswirkt. Querschnittstudien können solche Zusammenhänge aufzeigen, indem sie bestimmte Kriterien zu einem bestimmten Zeitpunkt untersuchen [11].

In den „Archives of Physical Medicine and Rehabilitation“ stößt man mit den Suchbegriffen „CRPS I“ und „Activity“ auf einen frei zugänglichen Artikel. Darin untersuchten niederländische Forscherum die Physiothera-peutin Fabienne Schasfoort 30 Klienten mit chronischer CRPS I. Dazu setzten sie die Impairment Sum Scores (ISS) und den Upper-Limb Activity Monitor (ULAM) ein. Auf diese Weise fanden sie heraus, dass die Klienten ihren betroffenen Arm seltener und weniger intensiv nutzten als ihren intakten. Dies war vor allem dann der Fall, wenn sie eine sitzende Tätigkeit ausführten und ihre dominante Seite geschädigt war. Dabei ging der reduzierte Einsatz des betroffenen Armes mit einem verringerten Bewegungsausmaß und einer verminderten Greifkraft einher [12].


#

Krankheitsheitsverläufe ermitteln

Möchte man mehr über langfristige Verläufe oder Prognosen erfahren, liefern Kohortenstudien Antworten [7]. So untersuchte beispielsweise ein Schweizer Forschungsteam um die Bewegungswissenschaftlerin Maria Iakowa zwei Jahre lang 1.207 Klienten, die jünger als 60 Jahre waren und ein orthopädisches Trauma erlitten hatten. Laut den Ergebnissen haben betroffene Klienten höhere Chancen, wieder ins Berufsleben zurückzukehren, wenn sie langfristig wenig oder kaum Schmerzen wahrnehmen und ihren Gesundheitszustand positiv bewerten [13].

Vorgehensweise in der EBP [7]
  • > klinische Fragen formulieren

  • > nach Evidenz recherchieren

  • > Evidenz kritisch bewerten

  • > Evidenz für klinische Entscheidungen nutzen

  • > evaluieren

Das heißt, dass sich eine CRPS I auf verschiedene Lebensbereiche auswirken kann. Die Selbst- und Körperwahrnehmung, das Schmerzerleben und die motorischen Handlungsfertigkeiten eines Klienten scheinen Schlüsselfaktoren darzustellen, wenn es um die erfolgreiche Teilhabe am Alltags- und Berufsleben geht.

Damit stellt sich gleich die nächste Frage: Inwieweit können Ergotherapeuten dieser komplexen Problematik effektiv begegnen?


#

Wirksame Interventionen finden

Sucht man nach Wirksamkeitsnachweisen für konkrete Interventionen, sind randomisierte kontrollierte Studien (RCT), systematische Reviews oder Metaanalysen besonders aussagekräftig [2]. In gängigen Evidenzhierarchien belegen sie daherdie oberen Ränge (Abb.).

In der Datenbank „ScienceDirect“ stößt man mit den Suchbegriffen „CRPS I“ und „Occupational Therapy“ auf eine RCT-Studie mit 145 Teilnehmern, welche die Wirkung von Ergo- und Physiotherapie mit einer Kontrollgruppe vergleicht. Demzufolge reduziert eine ergotherapeutische Behandlung die Schmerzen signifikant stärker als die Kontrollintervention, erreicht aber etwas geringere Effekte als Physiotherapie [14].

In einem systematischen Review aus dem Jahr 2009 werteten die australischen Physio-therapeutinnen Anne Daly und Andrea Bialo-cerkowski zudem die Evidenz für relevante Behandlungsmaßnahmen aus. Demnach existieren aussagekräftige Beweise dafür, dass eine abgestufte motorische Imaginationstherapie die Schmerzen nachhaltig verringert. Erste Belege zeigen, dass die Spiegeltherapie sowohl die Schmerzwahrnehmung als auch die Bewegungssteife in der betroffenen Seite reduzieren kann. Außerdem scheint ein schrittweises sensomotorisches Training den Schmerz zu vermindern und dietaktile Diskri-mination zu verbessern [15].


#

Evidenz nutzbar machen

Mit etwas Glück erhält man einen recherchierten Artikel als frei zugängliches Dokument. Ist nur das Abs-tract einer Studie verfügbar, kann man den vollständigen Artikel online über die jeweilige Zeitschrift oder die ZB MED (www.zbmed.de) bestellen.

Wer schon etwas Übung im Lesen von Studien hat, erkennt schnell, dass deren Glaubwürdigkeit von der methodischen Qualität abhängt („Vorgehensweise in der EBP“). Diese kann man entweder selbst bewerten oder sich an bereits vorhandenen Bewertungen bzw. Empfehlungen orientieren, zum Beispiel auf „otseeker“, in der EBP-Datenbank des DVE oder in Leitlinien [2, 16, 17].

Forschungsergebnisse alleine reichen jedoch nicht aus, um evidenzbasiert zu arbeiten. Sie können ihre positive Wirkung für die Praxis erst dann entfalten, wenn man sie mit der eigenen klinischen Expertise und den Werten eines Klienten verknüpft [7]. Dabei laufen Denkprozesse ab, die vom wissenschaftlichen Reasoning über das narrative bis hin zum prozeduralen reichen. Sie erinnern an ein Puzzlespiel: Nach und nach fügen sich die einzelnen Aspekte zu einem sinnvollen Ganzen zusammen.


#
#

Zoom Image
Grafik: C. Lackner