Frauenheilkunde up2date 2013; 7(6): 395-406
DOI: 10.1055/s-0033-1346910
Allgemeine Gynäkologie und gynäkologische Onkologie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Palliativmedizinische Aspekte in der Gynäkologie

Behandlung und Begleitung schwerkranker und sterbender Patientinnen
Friedemann Nauck
,
Bernd Alt-Epping
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Friedemann Nauck
Klinik für Palliativmedizin, Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin, Georg-August-Universität Göttingen
Robert-Koch-Straße 40
37075 Göttingen

Publication History

Publication Date:
19 December 2013 (online)

 

Einleitung

Parallel zur Entwicklung der onkologischen Tumortherapie ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war es zu einer zunehmenden Technisierung der Medizin gekommen, einhergehend mit einer Fülle neuer technischer und medikamentöser Therapieoptionen in den operativen Fächern, der Anästhesiologie, der Intensiv- und Notfallmedizin, dem Transplantationswesen, der Nierenersatztherapie und vielem mehr. Eine eher aggressive therapeutische Grundhaltung, die Inkaufnahme teils hoher Therapiebelastungen und Toxizitäten, ein spärliches Aufklärungsverhalten und ein geringes Bewusstsein gegenüber kommunikativen und ethischen Fragestellungen bei schwerer Erkrankung prägten die damalige Zeit, auch bei Patienten in bereits inkurabler oder gar sterbenaher Erkrankungssituation.

Krebs und krebsbedingte Belastungen

Trotz aller Präventions- und Früherkennungskonzepte und aller Fortschritte der modernen Tumortherapie stehen den 469 800 Patienten, die im Jahre 2008 in Deutschland an Krebs neu erkrankten, 215 442 Todesfälle durch Krebs gegenüber (45,8 %) [1]. Bei den gynäkologischen Tumorentitäten zeigen sich deutliche Unterschiede in der Mortalität: so stehen den 71 660 an Mammakarzinom neu erkrankten Patientinnen 17 209 Todesfälle gegenüber (24,01 %), jedoch den 7790 an Ovarialkarzinom neu erkrankten Patientinnen sogar 5529 Todesfälle (70,1 %).

Unabhängig von der hohen Mortalität ist die Diagnose Krebs verbunden mit dem Gefühl von Betroffenheit, Kontrollverlust und Unheilbarkeit [2] und unterscheidet sich in der emotionalen und affektiven Wahrnehmung deutlich von anderen, ebenfalls potenziell letalen Grunderkrankungen.

Vor diesem Hintergrund gründete die Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Dame Cicely Saunders im Jahre 1967 das St. Christopherʼs Hospice in London, mit dem Ziel, schwerst- und sterbenskranken Menschen eine umfassende medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Behandlung und Begleitung zukommen zu lassen [3], [4]. Dadurch wurde der Grundstein für die weitere Entwicklung der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin gelegt. Elisabeth Kübler-Ross brach mit ihrem 1969 erschienenen Buch „Interviews mit Sterbenden“ (Neuauflage [5]) mit dem Tabu, „das Sterben als einen wesentlichen Teil des Lebens aufzufassen“ [http://www.socialnet.de/rezensionen/8848.php]. Paul Watzlawick trug wesentlich zu einer patientenzentrierten Kommunikation und Aufklärung bei [6]. Das aufkommende ärztliche Bewusstsein gegenüber den Bedürfnissen und klinischen Problemen fortgeschritten erkrankter (Krebs-)Patienten spiegelt sich zum Beispiel in den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zur Tumorschmerztherapie [7] (siehe Kasten).

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Abb. 1 WHO-Stufenschema zur Behandlung tumorbedingter Schmerzen (modifiziert nach [7]).
Prinzipien der Tumorschmerztherapie nach WHO
  • Stufenschema (by the ladder) (Abb. [1])

  • nicht invasive Applikation (by the mouth)

  • Analgetika nach festem Zeitschema (by the clock)

  • Basismedikation: Retard- und Monopräparate

  • Bedarfsmedikation: schnell wirkend, gleiche Substanz, 1/6 von 24 h

  • individuelle Dosisanpassung

  • Einsatz von Koanalgetika

  • Prophylaxe von Nebenwirkungen der analgetischen Behandlung (Obstipationsprophylaxe, MCP etc.)

Die zunehmende Aufmerksamkeit gegenüber den komplexen Bedürfnissen von Palliativpatienten spiegelte sich auch in Deutschland wider in Form einer Vielzahl von klinischen, rechtlichen und strukturellen Entwicklungen, insbesondere durch die Wahrnehmung der Palliativmedizin als explizite Behandlungsform und Haltung gegenüber schwerkranken und sterbenden Patienten.

Palliativmedizin stellt eine explizite Behandlungsform und Haltung gegenüber schwerkranken und sterbenden Patienten dar.


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Palliativmedizin: klinische Expertise und allgemeine und spezialisierte Versorgungsstruktur

In Deutschland kam es insbesondere ab den 1980er-Jahren mit der Hospizbewegung zu einem gesellschaftlichen Impuls, sich explizit den Bedürfnissen und der Begleitung Sterbender zu widmen. Parallel dazu begann die ärztlich/akademische Seite, sich v. a. um die medizinischen Belange schwerkranker und sterbender Menschen – in expliziter Form als Palliativmedizin – zu entwickeln. Beide Ausprägungen, Hospizbewegung und Palliativmedizin, spiegeln trotz ihrer teils unterschiedlichen strukturellen Manifestationsformen (stationäre Hospize mit begleitendem, pflegerisch orientiertem Auftrag versus Palliativstationen mit medizinisch-pflegerischem Behandlungsauftrag) denselben Impuls und dieselben Ideale einer verbesserten, offenen Behandlung und Begleitung schwerkranker und sterbender Patienten wider.

Allgemeine Palliativversorgung. Dabei wird der größte Anteil der Palliativversorgung vom familiären und sozialen Umfeld der Patienten selbst sowie den ambulanten Pflegediensten, Hausärzten und primär versorgenden Fachärzten (einschließlich der onkologisch tätigen Fachdisziplinen) geleistet. Dies spiegelt sich in dem Begriff „Allgemeine (ambulante oder stationäre) Palliativversorgung“ wider. Aktuell wurden im neuen EBM Ziffern und Abrechnungsmöglichkeiten für die allgemeine Palliativversorgung für die ärztlichen Leistungen veröffentlicht. Auf der berufspolitischen Ebene wird diskutiert, wie die allgemeine Palliativversorgung weiter gestärkt werden kann und die involvierten Berufsgruppen die im Vergleich zur Versorgung anderer Patienten aufwendigere Behandlung vergütet bekommen können, und welche Qualifizierungen vorausgesetzt werden müssen.

Die Allgemeine Palliativversorgung umfasst das soziale Umfeld der Patienten, ambulante Pflegedienste, Hausärzte und primär versorgende Fachärzte.

Spezialisierte Palliativversorgung. Ein kleinerer Teil der schwerkranken und sterbenden Patienten (Berechnungen gehen von ca. 10 % aus [8], S. 198]) leidet jedoch unter sehr komplexen Belastungen, sowohl in medizinischer, pflegerischer, psychologischer, sozialdienstlicher oder spiritueller Hinsicht, sodass einerseits eine höhere Qualifizierung und ein deutliches Mehr an Unterstützungsangeboten erforderlich wird. Dies resultiert in den multiprofessionellen Angeboten der spezialisierten Palliativversorgung, in denen palliativmedizinisch zusatzweitergebildete Fachärzte, Krankenpflegende mit Palliative-Care-Weiterbildung, Sozialdienstmitarbeiter, Psychologen, Seelsorger, ggf. auch Musik- und Kunsttherapeuten, Apotheker oder weitere Berufsgruppen sowie befähigte Ehrenamtliche mitwirken.

Etwa 10 % der Patienten benötigen über die allgemeine Palliativversorgung hinaus weitere und intensivere Angebote von speziell zusätzlich geschultem Personal.

Inhalte und Aufgaben der Palliativmedizin
  • spezielle Maßnahmen der Symptomkontrolle

  • Rund-um-die-Uhr-Krisenintervention

  • Wundmanagement

  • Konzepte zu Volumen- und Ernährungstherapie

  • pflegerische Anwendungen

  • psychosoziale Konzeptarbeit

  • kommunikative Kompetenzen und Case-Management

  • Strukturierung ethischer Fragestellungen

  • Advance Care Planning

  • rehabilitative/versorgungsdienstliche Maßnahmen

  • Aufbahrung und Trauerarbeit

Dabei kommt auch zum Ausdruck, dass es neben der hohen Aufmerksamkeit gegenüber den komplexen (physischen und psychischen) Symptomen der Betroffenen auch um die Ausschöpfung und Stärkung der noch verbleibenden Ressourcen und Ausgestaltungsmöglichkeiten in einer schweren Erkrankungssituation geht wie auch um den ausdrücklichen Einbezug des familiären und sozialen Umfelds sowie der vorbestehenden medizinischen und pflegerischen Infrastruktur. Spezialisierte Palliativversorgung versteht sich als Ergänzung in besonders komplexen Behandlungssituationen und nicht als Ersatz der die Grundversorgung sichernden Krankenpflegedienste, Haus- und Fachärzte. Dies betrifft selbstverständlich auch den fortbestehenden Einbezug der fachonkologischen (z. B. gynäkologischen) Behandlungsoptionen in ein gemeinsames, umfassendes palliatives Behandlungskonzept.

Kasuistik zum fallorientierten Lernen

67-jährige alleinlebende berentete Patientin, Diagnose primär ossär metastasiertes Mammakarzinom links; ER/PR-positiv, HER2-negativ. Zunächst Therapie mit Aromatasehemmer und Bisphosphonaten. Durch den behandelnden Gynäkologen vermittelter Erstkontakt mit palliativmedizinischer Ambulanz zur Einstellung refraktärer, v. a. bei Belastung persistierender, tumorbedingter Knochenschmerzen. Zwei Jahre später viszerale Metastasierung (Lunge, Leber); Beginn der Chemotherapie. Progrediente Reduktion des Allgemeinzustandes; Notwendigkeit häuslicher Pflege; Hausnotruf und Einbezug des SAPV-Teams (SAPV: Spezialisierte Ambulante PalliativVersorgung) durch betreuenden Gynäkologen zur 24-h-Unterstützung der hausärztlichen und pflegedienstlichen Versorgung.

Eines Sonntags erfolgt mittags ein Anruf auf dem SAPV-Diensthandy wegen neu aufgetretener, rasch progredienter Schluckstörungen; beim umgehend durchgeführten Hausbesuch finden sich komplexe, allgemeine und fokale neurologische Befunde; Veranlassung der Aufnahme auf eine Palliativstation. Dort erfolgt die MRT-Notfalldiagnostik mit dem Ergebnis polytoper intrazerebraler Metastasen; keine Hinweise auf Meningeosis carcinomatosa. Einleitung einer zerebralen Radiatio 30,0 Gy. Zudem auf Palliativstation weitere Maßnahmen der Symptomkontrolle, Klärung der weiteren Versorgung, Erstellung einer Patientenverfügung und Klärung der Frage des Vorgehens im Falle weiterer Komplikationen und/oder Krisensituationen. Entlassung in die stationäre Pflege, fachlich unterstützt durch Hausarzt und SAPV-Team. Dort weitere Begleitung; SAPV-Hausbesuche im Pflegeheim, zuletzt zur Beratung und Behandlung von terminaler Rasselatmung. Die Patientin verstirbt ruhig und symptomkontrolliert im Beisein einer Verwandten und der Pflegenden.

Explizit steht die spezialisierte Palliativversorgung nicht nur unterstützungsbedürftigen Krebspatienten offen, sondern allen Patienten mit einer komplexen, unterstützungsbedürftigen Grunderkrankung (z. B. neurodegenerative/neuromuskuläre Erkrankungen wie amyotrophe Lateralsklerose, Organinsuffizienzen wie chronische Herz- oder Niereninsuffizienz oder COPD). Dennoch nehmen Patienten mit Krebserkrankungen in spezialisierten palliativmedizinischen Einrichtungen immer noch mehr als 90 % aller Versorgten ein [9].

Die Spezialisierte Palliativversorgung ergänzt in besonders unterstützungsbedürftigen Situationen die Strukturen der Grundversorgung.


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Organisationsformen spezialisierter Palliativversorgung

Für die spezialisierte Palliativversorgung existieren Organisationsformen, die ineinandergreifen – sowohl untereinander als auch mit allen vorbestehenden Behandlungsstrukturen, insbesondere den hausärztlichen, pflegerischen und fachonkologischen Strukturen:

Palliativstationen

Palliativstationen sind mittlerweile in vielen Krankenhäusern vorhanden und weisen in der Regel eine den komplexen Anforderungen entsprechend höhere Personalintensität und eine bestimmte räumliche Mindestausstattung auf. Sie stellen Strukturqualitätsmerkmale vieler onkologischer Zertifizierungsprogramme dar und ergänzen das stationäre Versorgungsangebot durch die dort stattfindende intensive, insbesondere auf Krisenintervention, Symptombehandlung und psychosoziale Unterstützung ausgerichtete Behandlung und Begleitung.

In Palliativstationen wirken sowohl verschiedene, oben genannte Berufsgruppen (Multiprofessionalität) als auch verschiedene ärztliche Fachdisziplinen (Interdisziplinarität) mit.

Vergütung. War die Abrechnung im stationären Bereich zunächst überwiegend durch sog. „besondere Einrichtungen“ in direkten Verhandlungen mit den Kostenträgern möglich, so muss die weit überwiegende Zahl der Palliativstationen ihre Leistungen nach dem fallpauschalisierten System (DRG) abrechnen; der erhebliche, v. a. personalbedingte Mehraufwand soll dabei ausgeglichen werden durch das Zusatzentgelt 60 (ZE60), bzw. ab 2014 durch das Zusatzentgelt 145 (ZE145). Dadurch sind die Leistungen der „spezialisierten stationären palliativmedizinischen Komplexbehandlung“ des Operationen- und Prozedurenschlüssels unter der Ziffer OPS 8-98e mit einem Entgelt hinterlegt, welches u. a. abrechenbar ist, wenn ein palliativmedizinisches Basis-Assessment erfolgte, Kontaktzeiten der verschiedenen Berufsgruppen dokumentiert sind und eine Mindestzeitdauer (6 Stunden/Woche) überschritten haben und der Patient 7 Tage oder länger behandelt wurde.

Für die spezialisierten Einrichtungen der palliativmedizinischen Versorgung geht damit eine selbstverständliche Verpflichtung einher, die entsprechenden Struktur-, Qualitäts- und Dokumentationsanforderungen zu erfüllen. Der unvergleichbar hohe Einsatz aller Mitarbeiter, der entsteht, wenn ein Patient aus der häuslichen Palliativversorgung aufgrund einer komplexen, krisenhaften, medizinischen, pflegerischen, psychosozialen (z. B. familienbezogenen) Problematik notfallmäßig auf die Palliativstation aufgenommen werden muss und dort unter der intensiven Betreuung im Rahmen der fortgeschrittenen Erkrankung nach z. B. 5 Tagen verstirbt, bleibt im Vergütungssystem bislang unberücksichtigt.


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Palliativmedizinische Konsildienste/Palliativdienste

Palliativmedizinische Konsildienste/Palliativdienste arbeiten zumeist multiprofessionell (ärztlich, pflegerisch, sozialdienstlich, psychologisch oder in ähnlichen Konstellationen), beraten nichtpalliativmedizinische Fachbereiche und Stationen in allen palliativmedizinisch relevanten Fragestellungen und bieten eine Mitbehandlung und Begleitung der Patienten und ihrer Angehörigen an. Mancherorts ist das multiprofessionelle palliativmedizinische Mitbehandlungsangebot (analog der Liaisondienste der psychiatrischen/psychotherapeutischen/psychoonkologischen Versorgung) soweit ausgebaut, dass nichtpalliativmedizinische Stationen in die Lage versetzt werden, das Zusatzentgelt ZE60 in begründeten Einzelfällen abzurechnen.

Durch ein gut ausgebautes Mitbehandlungsangebot können in manchen Fällen auch nichtpalliativmedizinische Stationen das Zusatzentgelt ZE60 abrechnen.

Vor allem in angelsächsischen Ländern bestehen palliativmedizinische Tageskliniken, die elektiv zum Beispiel im Wochenrhythmus Patienten einbestellen, noch mobilen Patienten eine multiprofessionelle Betreuung anbieten, mit dem Ziel, aufkommende (medizinische, pflegerische, psychosoziale) Probleme möglichst in einem frühen Stadium zu erkennen und Patienten unterstützen und behandeln zu können.


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Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung

Die Spezialisierte Ambulante PalliativVersorgung (SAPV) stellt eine der wichtigsten Formen palliativmedizinischer Mitbehandlung dar. Sie hat zum Ziel, die hausärztliche Primärversorgung und die ortsgebundenen ambulanten Pflegedienste durch ein multiprofessionelles Angebot zu ergänzen, ohne die Primärversorgung zu ersetzen.

Der Anspruch schwerkranker Patienten auf SAPV ist gesetzlich verankert (SGB V § 37b, § 132d).

Ausgestaltung des Angebots. Die Ausgestaltung des gesetzlichen Anspruches auf SAPV ist in den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses sowie den Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes beschrieben. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat hier keine genauen Vorgaben gemacht. Die Regelungen in SGB V (§§ 37b & 132d), SAPV-Richtlinie und „Gemeinsamen Empfehlungen nach § 132d SGB V“ sind an vielen Stellen offen formuliert und lassen erheblichen Gestaltungsspielraum. Das birgt Risiken und Chancen zugleich. Den Chancen, zu individuellen und passgenauen Lösungen zu kommen, stehen die Risiken gegenüber, den qualitativen Anspruch an SAPV durch eine gewisse Beliebigkeit zu unterlaufen.

Die Verordnung von SAPV muss mit der Komplexität der Behandlungssituation begründet werden und erfolgt über das Formular § 63; Erst- und Folgeverordnung werden nach EBM dem Hausarzt vergütet [10].

Ganztägige Erreichbarkeit. Neben der Multiprofessionalität ist eines der wesentlichen Merkmale von SAPV-Teams deren 24-h-Erreichbarkeit, sodass sich auch im Rahmen der Notfallmedizin Synergien ergeben können, indem bei Notfalleinsätzen Mitarbeiter der SAPV-Teams frühzeitig hinzugezogen werden.

Anspruch erfüllt? Derzeit ist es Gegenstand intensiver Untersuchung und Diskussion, inwieweit die spezialisierte ambulante Palliativversorgung mit ihren Palliative-Care-Teams tatsächlich ein (von den meisten Menschen erhofftes) Versterben zu Hause ermöglichen [11] oder gar Kosten durch unangemessene Drehtürwiederaufnahmen senken; ihr Beitrag, Symptome zu lindern und eine komplexe häusliche Begleitungssituation für Patienten und Angehörige aushaltbarer zu machen, dürfte unbestritten sein.

Definitionen. Gegenstand intensiver Diskussion ist zudem, wann im Erkrankungsverlauf Strukturen der spezialisierten Palliativversorgung einbezogen werden sollten. Frühere Konzepte, einschließlich der früheren WHO-Definition von Palliative Care, sprechen von einem Einbezug von Palliativmedizin bei Patienten „who are not responsive to curative treatment“. Abgesehen davon, dass die Bedeutung des Begriffs „curative“ uneinheitlich ist (im Sinne von „heilend“, aber auch im Sinne von „tumorspezifisch“) und damit Freiraum für Interpretationen lässt, setzt eine solche Definition einen modellhaften linearen Erkrankungsverlauf voraus.

Palliative Care – Definitionen

WHO 1986

… The active total care of patients whose disease is not responsive to curative treatment. … [7]

WHO 2002

Palliative care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problems associated with life-threatening illness, …

EAPC 2009/2010

Palliative care is the active, total care of the patient whose disease is not responsive to curative treatment … Palliative care is appropriate for all patients from the time of diagnosis with a life-threatening or debilitating illness. The term ‘life-threatening or debilitating illness’ here is assumed to encompass the population of patients of all ages with a broad range of diagnostic categories, who are living with a persistent or recurring condition that adversely affects daily functioning or will predictably reduce life expectancy [12], [13].

Aktuelle Definitionen hingegen tragen dem Aspekt der Bedürfnisorientiertheit in besonderem Maße Rechnung: Eine (intensive, multiprofessionelle) palliativmedizinische Unterstützung soll derjenige Patient erhalten, dessen Probleme und Bedürfnisse diese Unterstützung erfordern, unabhängig von einem „fortgeschrittenen“ Erkrankungsstadium und unabhängig von einer möglicherweise begleitenden Tumortherapie (bzw. bei nicht onkologischen Palliativpatienten unabhängig von einer auf die Grunderkrankung ausgerichteten spezifischen Therapie). Diese im aktuellen klinischen Verständnis der Palliativmedizin fest verankerte Bedürfnisorientiertheit (anstelle einer Prognoseorientiertheit) spiegelt sich nur zum Teil in den formalrechtlichen Grundlagen spezialisierter Palliativversorgung wider.

Studienlage. Weitreichende Beachtung hat eine randomisierte, kontrollierte Studie der Bostoner Arbeitsgruppe um Jennifer Temel gefunden [14]: Hier erhielten Patienten mit nicht kleinzelligem Bronchialkarzinom im (inkurablen) Stadium IV entweder eine strukturierte palliativmedizinische Mitbehandlung vom Diagnosezeitpunkt an oder diese Mitbehandlung erst „bei Bedarf“ im weiteren Erkrankungsverlauf. Bei den Patienten mit frühzeitig integrierter Palliativversorgung zeigten sich eine bessere Lebensqualität, weniger depressive Symptome und ein besseres Verständnis ihrer Prognose. Es wurde in dieser Gruppe weniger Chemotherapie innerhalb der letzten 60 Lebenstage appliziert, der Zeitraum zwischen letzter Chemotherapie und Versterben war länger, ebenso der Zeitraum für hospizliche Begleitung. Es gab weniger Notaufnahmen bzw. Krankenhausaufenthalte und mehr Vorausverfügungen bez. Reanimation. Zudem war deren Gesamtüberlebenszeit deutlich verlängert – ein Resultat, was nicht als Studienendpunkt zuvor benannt worden war und daher wiederholt methodisch hinterfragt wurde.

Frühzeitiger Beginn palliativer Maßnahmen. Seit dieser Studie ist die „frühzeitige Integration“ palliativmedizinischer Mitbehandlung in die onkologische Tumortherapie ein Ziel, welches sich z. B. bereits in den Stellungnahmen der ASCO oder in entitätsspezifischen deutschen S3-Leitlinien widerspiegelt [15]–[17].

Diese Frühzeitigkeit palliativmedizinischer Mitbehandlung findet sich auch in den neuen Definitionen von Palliativmedizin wieder (WHO, EAPC). In Diskussion verbleibt jedoch, ob dieser Ansatz wirklich für jede Tumorentität gelten solle: So dürften Patienten mit Erstdiagnose eines malignen Melanoms Stadium IV (Fernmetastase) oder Patientinnen mit Mammakarzinom und erster, isolierter Knochenmetastase trotz der damit verbundenen Inkurabilität möglicherweise von einem frühzeitigen Kontakt mit einem Palliativteam (bei Diagnosestellung) deutlich weniger profitieren als Patienten mit nicht kleinzelligem Bronchialkarzinom Stadium IV oder Patientinnen mit Ovarialkarzinom FIGO IV, mit dem dort entsprechend aggressiven, frühzeitig symptombelasteten und zeitnahe lebenslimitierenden Erkrankungsverlauf.


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Symptomkontrolle

Die aktuelle WHO-Definition von Palliative Care spricht von “prevention and relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psychosocial, and spiritual” [18].

Die Vielschichtigkeit der anzutreffenden Probleme erfordert ein multiprofessionelles Vorgehen in der Palliativmedizin; es geht in der Palliativmedizin um mehr als nur um Schmerzbehandlung. Dennoch stellt Schmerz, zumeist als tumorbedingter Schmerz, das oder eines der am häufigsten genannten bzw. festgestellten klinischen Probleme dar.

Palliativmedizin ist multiprofessionell ausgelegt.

Die seit nunmehr über 20 Jahren durchgeführte Hospiz- und Palliativerhebung (HOPE) zeigte schon früh, dass über ⅘ der in spezialisierten Palliativeinrichtungen behandelten Patienten unter Schmerzen leiden (81,7 %) [19]. Es folgen Allgemeinsymptome (Schwäche 29,4 %), Luftnot (20,2 %) und gastrointestinale Symptome. Psychische, soziale oder pflegebezogene Probleme bestehen ebenfalls in einer Mehrzahl der Patienten. Die parallel durchgeführte Selbsteinschätzung der Patienten ihrer eigenen Probleme mithilfe des Minimalen Dokumentationssystems MIDOS [20] zeigt noch höhere Symptomprävalenzen. Je nach Grunderkrankung (wie z. B. bei nicht onkologisch oder hämatologisch erkrankten Palliativpatienten) stehen auch Schwäche und Fatigue als klinische (und nachfolgende pflegerische Probleme) im Vordergrund [9].

Palliativ zu behandelnde Symptome
  • Schmerzen

  • Schwäche

  • Atemnot

  • gastrointestinale Probleme

  • psychische, soziale, pflegebezogene Probleme

  • ggf. Schwäche und Fatigue


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Advance Care Planning

Anhand des o. g. Auszuges aus der aktuellen WHO-Definition wird deutlich, dass nicht nur die Behandlung aktueller Symptome und Probleme, sondern deren Vorbeugung und das damit verbundene vorausschauende Planen im Vordergrund stehen. Dieses Konzept des vorausschauenden Planens wird unter dem Begriff „Advance Care Planning“ subsumiert.

Bei vielen Patienten wird man anhand der Grunderkrankung bzw. anhand der Tumormanifestationen Symptome, Probleme, aber auch krisenhafte Zuspitzungen antizipieren müssen. So werden bei einer Patientin mit Mammakarzinom und fortgeschrittener ossärer Metastasierung nozizeptive Schmerzzustände zu erwarten sein, und bei Patientinnen mit fortgeschrittenem, peritoneal metastasierten Ovarialkarzinom wird das Auftreten eines Ileuszustandes neben viszeralen Nozizeptorschmerzen sowie Symptome wie Übelkeit und Erbrechen mit entsprechenden Konsequenzen für die weitere medikamentöse Therapie und Flüssigkeitszufuhr wahrscheinlich sein. Bei Patientinnen mit lokal fortgeschrittenem Vulvatumor mit Exulzerationen wird man die Möglichkeit einer potenziell letalen Wundblutung in Betracht ziehen müssen, und bei Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen wie der Amyotrophen Lateralsklerose eine zunehmende respiratorische Insuffizienz mit der konsekutiven Frage nach mechanischer Beatmung.

Fazit für die Praxis

Palliativmedizin zielt darauf ab, Probleme und Krisen zu antizipieren, diese Verläufe behutsam, aber offen und klar zu erörtern, ggf. auch schriftlich zu dokumentieren, und Handlungswege aufzuzeigen, die dazu beitragen können, einen unausweichlichen Erkrankungsverlauf aushaltbar zu machen und unkontrollierte Notfallsituationen zu vermeiden (z. B. die Frage nach der Intubation bzw. Tracheotomie eines ALS-Patienten mit allen Beteiligten im Vorfeld mit angemessener Zeit zu klären).


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Pflegerische Maßnahmen

Die immense Bedeutung pflegerischen Handelns in der Palliativmedizin wird durch den im englischen Sprachgebrauch verwendeten Begriff der „Palliative Care“ deutlich. In einem multiprofessionellen Palliativteam obliegt es u. a. den dort mitwirkenden, nach dem 160 Stunden umfassenden Curriculum Palliative Care weitergebildeten Krankenpflegekräften, sich der folgenden Maßnahmen anzunehmen:

  • pflegerische Begleitung

  • Wundversorgung

  • Ernährung und Flüssigkeitsgabe

  • Stomaversorgung

  • therapeutische Anwendung pflegerischer Maßnahmen wie Wickel und Auflagen

  • Gesprächsführung

  • Aufbahrung nach dem Versterben u. v. m.


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Psychosoziale Unterstützung

Psychosoziale Unterstützung umfasst neben Angeboten weiterer Berufsgruppen Hilfe folgender Art:

  • psychologisch/psychoonkologisch

  • sozialdienstlich

  • seelsorgerisch

Diese Unterstützungsformen beschränken sich nicht auf die Palliativsituation, sondern können in allen Tumorstadien erforderlich sein. In der Palliativsituation treten v. a. (teils intensive) psychische Belastungen der körperlichen Erkrankung mit Blick auf das Lebensende zutage, sodass die Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung einen großen Stellenwert einnimmt. Darüber hinaus können psychosoziale Faktoren selbst ebenfalls Auswirkungen auf das generelle Krankheitserleben und die körperliche Symptombildung haben, und Symptome können sowohl physische, psychische, soziale oder spirituelle Dimensionen des Erlebens haben. Dame Cicely Saunders, die Begründerin der modernen Palliativmedizin und Hospizbewegung, prägte hierzu den Begriff „Total Pain“ [21].

Für die Palliativversorgung bedeutet „Total Pain“, dass sich eine Verminderung des subjektiven Erlebens belastender Beschwerden und Symptome häufig nur durch eine Kombination von medizinischen, pflegerischen, psychologisch-psychotherapeutischen, sozialdienstlichen, physiotherapeutischen und anderen Behandlungsmethoden erreichen lässt, sowohl im Setting der akuten Krisenintervention als auch in der Prävention und in der vorausschauenden Krisenplanung (s. o.).


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Ethische Entscheidungshilfe

Nicht selten wird im Rahmen einer Anfrage nach einem palliativmedizinischen Konsil oder einer palliativmedizinischen Mitbehandlung, vordergründig z. B. aufgrund von Schmerzen oder Luftnot, ein zugrunde liegendes zentrales ethisches Problem deutlich. Viele Therapieentscheidungen in der Behandlung schwerkranker oder sterbender Patienten können sich nicht mehr nach Standards richten, die für Patienten in anderen, früheren Erkrankungsstadien konzipiert wurden. Die daraus resultierende normative, bewertende Dimension therapeutischer Entscheidungen in der Palliativsituation erfordert ethische Expertise und entsprechende kommunikative Fertigkeiten.

Palliativmedizinische Entscheidungen können sich nicht nach gängigen Standards richten; hier ist u. a. ethische Expertise gefragt.

Viele der ethisch relevanten Fragen am Lebensende betreffen Aspekte der Therapiezieländerung bis hin zur Therapiebegrenzung. Die zugrunde liegenden Entscheidungskriterien können gewichtet und in analytischer Weise in Form von Algorithmen dargestellt werden [22], [23]. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung [24] stellen ebenfalls in übersichtlicher Weise diejenigen Prinzipien und Werte dar, die für eine therapeutische Maßnahme vorhanden sein müssen bzw. deren Fehlen einen Verzicht z. B. auf eine spezielle tumorspezifische Behandlung rechtfertigen: Die Grundsätze unterscheiden zwischen einer „Basisbetreuung“ einerseits (Maßnahmen, die jedem Patienten zuteilwerden sollten, wie Pflege, menschenwürdige Unterbringung, Schmerztherapie, Stillen von Hunger und Durst) und medizinischer „Behandlung“ andererseits.

Für eine „Behandlung“ muss sowohl eine „Indikation“ vorliegen als auch der Wille des Patienten geachtet werden.

Indikation und Wille bzw. Einwilligung stellen somit die beiden Kernkriterien für die Durchführung einer medizinischen Maßnahme dar – fehlt eines der beiden Kriterien, darf eine Maßnahme nicht durchgeführt werden. Ein Patient kann nicht verlangen, was nicht indiziert ist [25]. „Die medizinische Indikation, verstanden als das fachliche Urteil über den Wert oder Unwert einer medizinischen Behandlungsmethode in ihrer Anwendung auf den konkreten Fall, begrenzt insoweit den Inhalt des ärztlichen Heilauftrages“ [26], (zit. n. [25], S. 121–131). Dieser zweischrittige Prozess aus Indikationsstellung (des Arztes) und Zustimmung (des Patienten) spiegelt sich auch in der Autonomiekonzeption des „informed consent“ wider.


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Zum Indikationsbegriff

In diesem Zusammenhang erscheint es jedoch wichtig, den Indikationsbegriff zu präzisieren. Als medizinische Indikation wird nach Heiner Raspe das fachlich bestmögliche Therapieangebot verstanden – eine Bewertung der zur Behandlung eines Krankheitszustandes zur Verfügung stehenden Behandlungsoptionen [27]. Dabei werden die folgenden 3 Begründungsebenen unterschieden:

  • Unter einer „empirischen Begründung“ wird eine Diagnose oder Situation mit einem resultierenden Handlungsdruck verstanden. Ohne Handlungsdruck kann eine Maßnahme nicht indiziert sein. Eine Schmerztherapie ist also nur dann indiziert, wenn Schmerzen da sind oder zu erwarten sind. Wichtig ist anzuerkennen, dass die Bewertung, was ein rechtfertigender Handlungsdruck ist, divergieren kann. So antworteten 58 % aller (zumeist weit fortgeschritten erkrankten) Patienten einer onkologischen Station, dass sie im Falle eines Herz-Kreislauf-Stillstandes kardiopulmonal reanimiert werden wollten (d. h. in dem Herzstillstand einen rechtfertigenden Handlungsdruck für das Standardnotfallmanagement sahen trotz ihrer zugrunde liegenden inkurablen Grunderkrankung) [28].

  • Der Begriff der „finalen Begründung“ umschreibt, dass ein Therapieziel vorhanden sein muss, damit eine Maßnahme indiziert sein kann. Im Gegensatz zur kurativen Therapiesituation existiert in der Palliativmedizin ein breites Spektrum an individuellen Zielen, die von der Hoffnung auf dauerhafte Remission über das Zurückdrängen der Erkrankung, oder über einen kleinen Lebenszeitgewinn („bis Weihnachten“, „bis zur Entbindung meines ersten Enkels“…) bis hin zur Hoffnung auf ein wenig Symptomlinderung oder den Erhalt der häuslichen Versorgbarkeit reichen. Ethische Probleme oder Konflikte entstehen v. a. dann, wenn zwischen den Beteiligten unterschiedliche Therapieziele bestehen oder vormalige Therapieziele eingedenk sich verändernder medizinischer Rahmenbedingungen (z. B. bei systemischem Tumorprogress) realistischerweise geändert werden müssen. Dabei ist es kein Euphemismus, anstatt von einer „Therapiebegrenzung“ eher von einer „Therapiezieländerung“ zu sprechen.

  • Die „kausale“ und „konditionale“ Begründung impliziert, welche Maßnahme unter welchen Bedingungen angezeigt ist, sie zu ergreifen. Ist die zur Disposition stehende Maßnahme überhaupt geeignet, das Therapieziel zu erreichen? Hier fließen Werte und Bewertungen ein wie die Wirksamkeit der angedachten Maßnahme, das Verhältnis aus erhofftem Nutzen und denkbarem Schaden, die klinische Relevanz, aber auch Aspekte von Effizienz und Futility. Auch hier besteht Raum für unterschiedliche Bewertungen aufseiten der Patienten und Angehörigen im Vergleich zu den therapeutisch tätigen Beteiligten (z. B.: Wann ist eine Therapiewirkung wirklich relevant für den Patienten? Wie groß muss die Wahrscheinlichkeit einer Wirkung sein, um von einer grundsätzlichen „Wirksamkeit“ zu sprechen?)

Diese 3 Begründungen der medizinischen Indikationsstellung unterliegen daher gerade in der Palliativsituation einer Vielzahl von subjektiven Bewertungen. Dies ist insofern sehr bemerkenswert, als dass in den 1990er-Jahren – im Gegenteil – von juristischer Seite nahegelegt worden war, den Indikationsbegriff „von normativen Faktoren bereinigt“ [29] zu gebrauchen, d. h. als einen bewertungsfreien Entscheidungsschritt zu verstehen. Zuletzt muss eine formal getroffene Indikation abgeglichen werden mit der Lebenswirklichkeit des Patienten. Dieses individuell angemessene, personalisierte Therapieangebot wird von Neitzke als „ärztliche Indikation“ und als Ausdruck ärztlicher Kunst bezeichnet [30].

Diese Vielschichtigkeit subjektiver Bewertungen führt in der Palliativsituation häufig zu einer fehlenden Eindeutigkeit („Maßnahme indiziert ja oder nein?“); dies lässt wiederum den Aspekt des „Patientenwunsches“ in anderem Licht erscheinen (s. o.) und verdeutlicht die ethische Komplexität der palliativmedizinischen Entscheidungssituation [31].


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Kernaussagen

Palliativmedizinisches Handeln findet überall dort statt, wo schwerkranken Patienten und Sterbenden mit vielschichtiger Expertise diejenige Unterstützung bereitet wird, die die Betroffenen benötigen, um einen fortschreitenden Erkrankungsverlauf für sich ausgestalten und durchstehen zu können. Dazu bedarf es neben einer exzellenten Schmerztherapie und Symptomkontrolle weiterer Angebote der Gesprächsführung, der psychosozialen Unterstützung sowie der Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen. Diese Aufgaben erfordern ein multiprofessionelles und interdisziplinäres Vorgehen, eine enge Zusammenarbeit aller in der Behandlung und Begleitung eines schwerkranken Patienten beteiligten Personen und Einrichtungen. Spezialisierte palliativmedizinische Versorgungsstrukturen können dabei v. a. in besonders komplexen Behandlungssituationen zusätzliche, erforderliche Expertise beisteuern.


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Friedemann Nauck

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Prof. Dr. med. Jahrgang 1955. Lehrstuhl für Palliativmedizin an der Georg-August-Universität Göttingen, Direktor der Klinik für Palliativmedizin Universitätsmedizin Göttingen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Vorstandsmitglied des Klinischen Ethikkomitees der Universitätsmedizin Göttingen. Mitherausgeber des „Lehrbuch der Palliativmedizin“. Arbeitsschwerpunkte: Versorgung am Lebensende (Versorgungsforschung), Symptomkontrolle, ethische und rechtliche Fragestellungen in der Patientenversorgung, Autonomie und Vertrauen. Förderung der Entwicklung der Palliativmedizin und Hospizarbeit in Lehre, Praxis und Forschung.

Bernd Alt-Epping

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PD Dr. med. Jahrgang 1970. Studium der Humanmedizin in Münster und in Cardiff/Wales. Danach Tätigkeit in der Inneren Abteilung des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke, seit 2002 in der Universitätsmedizin Göttingen (Abteilung Hämatologie/Onkologie). Seit 2006 Oberarzt im Palliativzentrum Göttingen (Direktor: Prof. Dr. F. Nauck) mit Tätigkeit in allen ambulanten und stationären Arbeitsbereichen der Palliativmedizin sowie in der palliativmedizinischen Forschung und Lehre.

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass in Bezug auf das Manuskript kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 http://www.gekid.de
  • 2 Lerch J, Kramer P. Laientheorien zu Krebs und Herzinfarkt. Medizinische Psychologie Bd. 7. Münster: Lit Verlag; 1997
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  • 30 Neitzke G. Unterscheidung zwischen medizinischer und ärztlicher Indikation. In: Charbonnier R, Dörner K, Simon S, Hrsg. Medizinische Indikation und Patientenwille. Stuttgart, New York: Schattauer; 2008: 53-66
  • 31 Alt-Epping B, Nauck F. Der Wunsch des Patienten – ein eigenständiger normativer Faktor in der klinischen Therapieentscheidung?. Eth Med 2012; 24: 19-28

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Friedemann Nauck
Klinik für Palliativmedizin, Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin, Georg-August-Universität Göttingen
Robert-Koch-Straße 40
37075 Göttingen

  • Literatur

  • 1 http://www.gekid.de
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  • 28 Ackroyd R, Russon L, Newell R. Views of oncology patients, their relatives and oncologists on cardiopulmonary resuscitation (CPR): questionnaire-based study. Palliat Med 2007; 21: 139-144
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  • 31 Alt-Epping B, Nauck F. Der Wunsch des Patienten – ein eigenständiger normativer Faktor in der klinischen Therapieentscheidung?. Eth Med 2012; 24: 19-28

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Abb. 1 WHO-Stufenschema zur Behandlung tumorbedingter Schmerzen (modifiziert nach [7]).