Aktuelle Urol 2015; 46(01): 9-10
DOI: 10.1055/s-0034-1544088
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Blasenentleerungsstörung – Blasenaugmentation mit autologem Gewebe

Contributor(s):
Elke Ruchalla

J Urol 2014;
191: 1389-1395
Further Information

Publication History

Publication Date:
12 February 2015 (online)

 

Bei Kindern mit einer konservativ therapierefraktären neurogenen Blasenentleerungsstörung aufgrund einer Spina bifida erfolgt meist eine Blasenaugmentation mithilfe von Darmanteilen. Damit ist aber eine Reihe von Komplikationen verbunden. Präklinische und klinische Pilotstudien haben gezeigt, dass es prinzipiell möglich ist, mithilfe von Methoden der regenerativen Medizin aus autologen Zellen eine Neoblase zu bilden, die diese Probleme vermeidet. Eine Arbeit aus den USA stellt jetzt Langzeitdaten dazu vor.
J Urol 2014; 191: 1389–1395

mit Kommentar

Die Implantation einer Neoblase aus autologen Körperzellen in einem biologisch abbaubaren Gerüst führt bei Kindern mit neurogener Blase nicht zu einer Verbesserung von Blasenkapazität oder Blasen-Compliance. Zu diesem Ergebnis kommt die prospektive Phase-II-Studie, die zwischen Dezember 2006 und April 2011 in 4 US-amerikanischen Zentren mit insgesamt 11 Kindern durchgeführt worden war.

In die Studie eingeschlossen wurden Kinder und Jugendliche (Alter zwischen 3 und 16 Jahren) mit Spina bifida und neurogener Blasenentleerungsstörung, die auf eine medikamentöse Behandlung mit antimuskarinergen Substanzen (Oxybutinin, Tolterodin) nicht ansprach. Definiert war das Therapieversagen als verminderte oder inadäquate Blasen-Compliance mit Detrusordrücken ≥ 40 cm H2O bei bzw. unterhalb der erwarteten altersentsprechenden Blasenkapazität. Weitere Kriterien waren innerhalb der vorangegangenen 12 Monate neu aufgetretene Komplikationen im Bereich des oberen Harntrakts, wie eine Hydronephrose oder ein vesikoureteraler Reflux.

Urothel- und glatte Muskelzellen isoliert und vermehrt

Bei den Teilnehmern wurde zunächst eine Biopsie der Blase entnommen, aus der dann Urothelzellen und glatte Muskelzellen isoliert und vermehrt wurden. Nach 5–7 Wochen wurden diese Zellen auf ein Kunststoffgerüst aus Polyglycolid / Polylactid aufgebracht, und dieses Konstrukt wurde dann den Patienten implantiert.

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(Bild: Sven Hoppe / Fotolia.com)

Beurteilt wurde die Blasen-Compliance in der Urodynamik 12 Monate nach der Implantation als primärer Endpunkt. Sekundäre Endpunkte umfassten weitere urodynamische Parameter bis Monat 36 und unerwünschte Ereignisse.


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Keine Verbesserung der Blasenkapazität

Die Auswertung ergab nach 12 Monaten eine Verbesserung der Compliance bei 4 und nach 36 Monaten bei 5 von 10 auswertbaren Patienten. Diese Zunahme war allerdings minimal und klinisch (und statistisch) nicht relevant. Die Blasenkapazität hatte sich bei keinem der Studienteilnehmer verbessert, weder nach 12 noch nach 36 Monaten.

Unerwünschte Ereignisse traten bei allen Patienten auf, in 5 Fällen war wegen eines schwerwiegenden Ereignisses ein chirurgischer Eingriff notwendig (3 Darmobstruktionen, 2 Blasenrupturen). Bei allen Teilnehmern kam es zu mindestens einer Episode eines Harnwegsinfekts.

Fazit

Bei Kindern mit Spina bifida fand sich keine klinisch relevante Verbesserung der urodynamischen Befunde nach Konstruktion der hier vorgestellten Neoblase aus autologen Blasenzellen, dafür aber eine hohe Rate an Nebenwirkungen, so die Autoren. Über die Ursachen könne man derzeit nur spekulieren: Ein Grund könnte sein, dass Ergebnisse, die mit histologisch und funktionell gesunden Blasen gewonnen wurden, auf Patienten mit Spina bifida bzw. erkrankte Blasen grundsätzlich nur begrenzt übertragbar sind.


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Kommentar

Derzeit keine Behandlungsoption

Diese hochrangige Studie zu dem faszinierenden Thema Blasenersatz liefert sehr ernüchternde Ergebnisse. Deshalb ist diese Studie so wertvoll und eine Pflichtlektüre für all diejenigen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Der Traum vom (funktionierenden) Blasengewebeersatz ist zwar nicht so alt wie der vom Fliegen aber die vorliegenden Studienergebnisse zeigen, dass dieser Traum im Vergleich zu dem anderen noch andauert.

Mit anderen Worten: Bislang gibt es keinen funktionierenden Blasenersatz auf der Basis der Gewebezüchtung, selbst in der derzeit aufwändigsten Form mittels bioabbaubarer Matrix, auf der autologe Blasenmuskelzellen und Blasenmukosazellen angezüchtet wurden. Vielversprechende Ergebnisse aus dem Tierlabor lassen sich eben nicht eins zu eins auf die Behandlung unserer Patienten übertragen.

Studie methodisch stark

Dabei ist diese Arbeit als prospektive Phase-II-Studie methodisch sehr stark. Seriell durchgeführte Untersuchungen (vor allem Urodynamikuntersuchungen) der Patienten nach 6, 9, 12, 18, 24 und 36 Monaten, die zudem extern unabhängig ausgewertet wurden, übertreffen hinsichtlich der Methode viele andere Publikationen, die zu diesem Thema veröffentlicht worden sind. Aber auch in dieser Studie wird lediglich über 10 Patienten berichtet, die zudem in 4 verschiedenen nordamerikanischen Zentren in einem doch recht langen Zeitraum zwischen 2006 und 2011 behandelt wurden.

Jeder, der Patienten mit neurogener Blasenentleerungsstörung behandelt, wüsste die Existenz funktionierenden Blasenersatzgewebes zu schätzen. So könnten unter Umständen die nicht unerheblichen und zu bedenkenden Folgekomplikationen nach herkömmlicher Augmentation, z. B. als Enterozystoplastik, vermieden werden. Die Folgekomplikationen in metabolischer Hinsicht bedürfen nicht nur einer lebenslangen Kontrolle und ggf. Korrektur, eine mögliche Adenom-Adenokarzinom-Sequenz kann hinsichtlich des Langzeitverlaufs heute noch nicht sicher vorausgesagt werden und belastet die Patienten zusätzlich.

Morphologie ist nicht gleich Funktion

Aufbauend auf vielversprechenden Ergebnissen aus der Arbeitsgruppe um Tony Atala [ 1 ] wurde diese Studie nun angelegt. Sicher ist es heute möglich, über Gewebezüchtung Blasenersatzgewebe mit einem gewissen morphologischen Ergebnis zu implantieren. Aber Morphologie ist nicht gleich Funktion. Die Blase ist in ihrer Funktion äußerst komplex hinsichtlich der verschiedenen Aufgaben des Harnspeicherns und des (willkürlichen) Miktionierens. Es ist sicher zu einfach und mechanistisch gedacht, durch einen gezüchteten Gewebeersatz diese komplexe Funktionalität, die zudem bei diesen Patienten neurogen gestört ist, ersetzen zu können. Das wird durch diese Studie eindrücklich belegt und sollte dazu führen, sich von dieser einfachen Hoffnung zu verabschieden. Dabei ist dies nicht wissenschaftsfeindlich gemeint aber diese Erkenntnis sollte vielmehr weitere Patienten vor dieser noch nicht ausgereiften Technik schütschützen, da nicht nur die erwarteten Ergebnisse nicht erzielt werden können, sondern zusätzlich die Patienten mit erheblichen Komplikationen belastet werden.

Ich habe selber einige Patienten mit neurogener Blasenentleerungsstörung erneut operieren müssen (im Sinne einer Enterozystoplastik), die mit SIS (small intestinal submucosa) Jahre zuvor augmentiert wurden. Auch bei diesen Patienten zeigte sich nicht die erwartete Verbesserung hinsichtlich der Kapazität und Compliance [ 2 ]. Gerade dieses Verfahren erscheint so verlockend, da auf eine Zellanzüchtung vermeintlich verzichtet werden kann und das Material im Laufe der nächsten Monate abgebaut und durch Blasenwandgewebe ersetzt wird. Vielversprechende histologische Bilder können dies im Tierversuch und zuletzt auch am Menschen belegen [ 3 ]. Aber das ist eben auch nur Morphologie und nicht Funktion, insbesondere im Langzeitverlauf.

Fazit

Zusammengefasst können durch die Technik der Gewebeanzüchtung als Ersatz für die primär oder sekundär geschädigte Blasenwand heute (histo-)morpholgisch vielversprechende Ergebnisse erzielt werden. Gleichwohl kann den Patienten nur durch eine Normalisierung der Blasenfunktion geholfen werden, welches insbesondere bei neurogener Blasenentleerungsstörung durch diese Technik nicht gelingt. Um die Patienten nicht mit den z. T. erheblichen Komplikationen zusätzlich zu belasten, stellt diese Technik derzeit im klinischen Alltag keine Behandlungsoption dar. Diese Einschätzung wird durch die vorliegende Studie eindrucksvoll belegt.

Prof. Dr. Maximilian Stehr, Nürnberg


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Prof. Dr. Maximilian Stehr


ist Chefarzt der Kinderchirurgie und -urologie der Cnopfʼschen Kinderklinik in Nürnberg

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  • Literatur

  • 1 Atala A, Bauer SB, Soker S et al. Tissue-engineered autologous bladders for patients needing cystoplasty. Lancet 2006; 367: 1241-1246
  • 2 Schaefer M, Kaiser A, Stehr M et al. Bladder augmentation with small intestinal submucosa leads to unsatisfactory long-term results. J Pediatr Urol 2013; 9: 878-883
  • 3 Zhang F, Liao L. Tissue engineered cystoplasty augmentation for treatment of neurogenic bladder using small intestinal submucosa: an exploratory study. J Urol 2014; 192: 544-551

  • Literatur

  • 1 Atala A, Bauer SB, Soker S et al. Tissue-engineered autologous bladders for patients needing cystoplasty. Lancet 2006; 367: 1241-1246
  • 2 Schaefer M, Kaiser A, Stehr M et al. Bladder augmentation with small intestinal submucosa leads to unsatisfactory long-term results. J Pediatr Urol 2013; 9: 878-883
  • 3 Zhang F, Liao L. Tissue engineered cystoplasty augmentation for treatment of neurogenic bladder using small intestinal submucosa: an exploratory study. J Urol 2014; 192: 544-551

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(Bild: Sven Hoppe / Fotolia.com)