Rofo 2016; 188(10): 957-959
DOI: 10.1055/s-0042-108062
The Interesting Case
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Trauma, Tod und Totenbehandlung – ein altägyptischer Mumienkopf aus dem Nationalmuseum für Geschichte und Kunst Luxemburg

S. Panzer
,
S. Zesch
,
T. Pommerening
,
T. Henzler
,
W. Rosendahl
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr. Stephanie Panzer
Radiologie, Unfallklinik Murnau
Prof.-Küntscher-Straße 8
82418 Murnau am Staffelsee
Germany   
Phone: ++ 49/88 41/48 42 65   
Fax: ++ 49/88 41/48 27 28   

Publication History

03 February 2016

02 May 2016

Publication Date:
01 June 2016 (online)

 

Einführung

Radiologische Untersuchungen von Mumien und hierbei vor allem die Computertomografie (CT) ermöglichen die Diagnose einiger Erkrankungen, vieler Verletzungen und daher, insbesondere im Falle eines unnatürlichen Todes, nicht selten die Bestimmung der Todesursache von Individuen. Darüber hinaus können sie Hinweise auf therapeutische Handlungen geben, aber auch Einblicke in Mumifizierungsmethoden und Rituale verschiedener Kulturen gewähren. Beobachtungen an einem Mumienkopf veranschaulichen im Folgenden den radiologischen Beitrag zur Rekonstruktion der Individualgeschichte und zur Behandlung des Leichnams einer Frau, die vor etwa 2000 Jahren in Ägypten gelebt hat.


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Fallbeschreibung

Der Mumienkopf befindet sich im Nationalmuseum für Geschichte und Kunst Luxemburg. Es wird davon ausgegangen, dass er aus Theben, dem heutigen Luxor, stammt. Er wurde der Société archéologique 1857 gestiftet, durch deren Sammlungen er ins Museum gelangte. Das 14C-Alter des Kopfes, der zu einem unbestimmten Zeitpunkt unter dem siebten Halswirbel vom Körper abgetrennt worden ist, liegt zwischen 17v. und 124n. Chr. Am Hinterkopf zeigt sich ein haarloses Areal mit mehreren Rissen der Kopfhaut. Die Qualität der Mumifizierung und der Rest von Blattgoldauflage am rechten Auge weisen auf eine Person höheren Standes hin ([Abb. 1]). Nach der anthropologischen Untersuchung handelt es sich um den Kopf einer Frau mit einem Alter von 25 – 35 Jahren (Zesch S et al. Publications du musée national d'histoire et d'art Luxembourg 2015; 26: 131 – 152).

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Abb. 1 Fotografie des Mumienkopfes. Reste der Leinenumwicklung und das rötliche Kopfhaar sind erhalten. Durch die Balsamierung des Körpers mit verschiedenen Substanzen, wie z. B. Bitumen und aufgrund der darin befindlichen Farbstoffe hat sich die Haut dunkel verfärbt. © German Mummy Project, Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim.

Die CT-Untersuchung erfolgte bezüglich Lagerung und Protokoll entsprechend der klinischen Routine (Somatom FORCE, Siemens, Forchheim; Schichtdicke 0,4 mm, Spannung 120 kV). Die Auswertung zeigt am Hinterkopf einen ca. 5 × 5,6 cm großen rundlichen Defekt des Os parietale beidseits im dorsalen Anteil ([Abb. 2a]). Innerhalb des Schädels liegen mehrere Kalottenfragmente, ein weiteres befindet sich im Foramen magnum. An der Halswirbelsäule sind Frakturen des zweiten Halswirbels rechts lateral, des dritten Halswirbelkörpers am hinteren Bogen beidseits sowie am Pedikel und Querfortsatz rechts, des sechsten Halswirbels am rechten Querfortsatz und des siebten Halswirbels am Pedikelansatz beidseits erkennbar. Zusätzlich sind der dritte und vierte Halswirbel ventral abgeflacht ([Abb. 2b]).

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Abb. 2 Trauma und transnasale Gehirnentfernung. a Dreidimensionale Oberflächenrekonstruktion mit Illustration des Defektes des Os parietale beidseits im dorsalen Anteil mit kaudaler Begrenzung durch die Sutura lambdoidea. Linksseitig sind Frakturausläufer in die angrenzende Kalotte erkennbar. b Sagittale multiplanare Rekonstruktion mit Darstellung des Kalottendefektes und der erhaltenen Weichteildeckung durch die Galea, die Risse aufweist (langer Pfeil). Abflachung des dritten und vierten Halswirbelkörpers ventral an der Deckplatte. Defekt der vorderen Schädelbasis (kurze Pfeile), dislozierte Fragmente im transnasalen Zugangsweg und in der Sella turcica (Pfeilkopf). c Paraaxiale multiplanare Rekonstruktion mit Darstellung des linkseitigen transethmoidalen Zugangsweges (Sternchen) und des Defektes der ventralen Keilbeinhöhlenbegrenzung (Pfeil). Das Nasenseptum weist im mittleren und hinteren Anteil Defekte auf und weicht nach rechts ab. Zu beachten sind die Kalottenfragmente dorsal in der hinteren Schädelgrube und der gute Erhaltungszustand der intraorbitalen Weichteilstrukturen.

Die vordere Schädelbasis weist einen medianen Defekt der Lamina cribrosa mit einer Größe von bis zu 2,4 × 1,7 cm auf. An der Keilbeinhöhle ist ein 1,3 × 0,7 cm großer Defekt der ventrokaudalen Wand zu erkennen. Die Orbitawand links ist im ventromedialen Anteil destruiert. Die Ethmoidalzellen sind auf der linken Seite weitgehend zerstört, das Nasenseptum im mittleren und hinteren Anteil. Das Nasenbein ist ab der Wurzel insbesondere auf der linken Seite imprimiert. Nahe des Clivus und in Höhe des Foramen magnums sind Reste von Dura erkennbar ([Abb. 2b, c]). Hirnparenchym ist nicht nachweisbar.

Am Oberkiefer weisen alle vier Schneidezähne und der linke Eckzahn überwiegend vertikale nicht dislozierte Frakturen insbesondere im ventralen Anteil auf. Es besteht ein geringer Überbiss ([Abb. 3a]).

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Abb. 3 Das Mundöffnungsritual. a Sagittale multiplanare Rekonstruktion mit erkennbaren nicht dislozierten Frakturen des oberen Schneidezahns in Höhe des Mundspaltes (Pfeil) als möglicher Hinweis auf eine gewaltsame Mundöffnung während der Balsamierung. Anlagebedingt geringer Überbiss. b Fischschwanzmesser. Vorgeschichtlich oder Frühzeit, Feuerstein, Länge 20 cm, Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim, Inv. 5106 (Foto: Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim; Sh. Shalchi). c Das Mundöffnungsritual. Szene im Totenbuch des Hunefer, 19. Dynastie, um 1280v. Chr., British Museum, London (© The Trustees of the British Museum).

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Diskussion

Die Schädelkalottenfraktur zeigt scharfe Frakturränder ohne erkennbare Kallusbildung und weist somit auf den zeitnahen Tod nach Erleiden des Traumas hin. Aufgrund der starken Ausprägung der Fraktur mit anzunehmender Schädigung des darunterliegenden Hirnparenchyms ist das Schädeltrauma als Todesursache anzusehen. Die Kalottenfragmente sind während des Mumifizierungsprozesses nach intrakraniell disloziert. Das Fehlen der Kopfhaare auf der geschlossenen Kopfhaut im Frakturbereich weist möglicherweise auf eine angestrebte Wundversorgung hin. Hinweise auf eine chirurgische Intervention liegen nicht vor (Zesch S et al. Publications du musée national d'histoire et d'art Luxembourg 2015; 26: 131 – 152). Die begleitenden Frakturen der Halswirbelsäule sind vermutlich ebenfalls Folge der Gewalteinwirkung, können im unteren Anteil aber auch im Rahmen der Abtrennung vom restlichen Körper entstanden sein. Die Abflachung des dritten und vierten Halswirbels ventral kann Folge einer Deckplattenimpressionsfraktur sein, jedoch auch Ausdruck einer Normvariante.

Die Defekte der vorderen Schädelbasis sind eindeutig als Folge einer transnasalen Gehirnentnahme zu werten. Der Zugangsweg erfolgte transethmoidal mit geringer Beteiligung der Keilbeinhöhle. Während die Balsamierer im Mittleren (ca. 2055 – 1650 v. Chr.) und Neuen Reich (1550 – 1069 v. Chr.) die Schädelbasis eher anterior transethmoidal perforierten, wählten sie ab der Dritten Zwischenzeit (1069 – 664 v. Chr.; Jahresangaben entsprechend: Shaw I. The Oxford History of Ancient Egypt. Oxford University Press 2002; 480 – 482) und in den späteren Perioden des alten Ägypten eher einen transsphenoidalen Zugang, wobei auch kombinierte transethmoidale/transsphenoidale Routen beobachtet worden sind. Der Zugang scheint überwiegend von links erfolgt zu sein (Fanous AA, Couldwell WT. J Neurosurg 2012; 116: 743 – 748), wie auch im vorliegenden Fall.

Die Frakturen der oberen Schneidezähne sind ein möglicher Hinweis für ein mechanisches Öffnen des Mundes am noch unbandagierten Körper. Als Instrument zum Öffnen des Kiefers während der Mumifizierung wurde schon früh das Peseschkaf in Betracht gezogen (Otto E. Das ägyptische Mundöffnungsritual. Harrossowitz 1960; 17), das sich auf ein bereits in der Frühzeit belegtes, fischschwanzförmiges Flintmesser zurückführen lässt ([Abb. 3b]). Traumata an den Zähnen und Manipulationen in der Mundregion von Mumien wurden bereits im Kontext einer mechanischen Prozedur der Mundöffnung diskutiert (Pahl WM. Science in Egyptology 1986; 211 – 217; Seiler R, Rühli FJ. Anat Rec 2015; 298: 1208 – 1216). Die überlieferten Versionen des sogenannten Mundöffnungsrituals zeigen die Ausführung jedoch nur an der fertig bandagierten und aufgerichteten Mumie oder einer Statue vor dem Grab ([Abb. 3c]) (Assmann J. Tod und Jenseits im alten Ägypten. CH Beck 2010; 409), im Balsamierungsritual werden die am Kopf auszuführenden Arbeiten diesbezüglich nicht weiter spezifiziert.


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Schlussfolgerung

Die Kasuistik bestätigt, dass die CT als nicht destruktive Methode in der multidisziplinären Mumienforschung einen großen Beitrag zum Verständnis eines Individuums und seines Umfelds leisten kann. Häufig können CT-Befunde jedoch nur im Kontext mit den kulturhistorischen Überlieferungen richtig interpretiert werden. Zukünftige Untersuchungen an altägyptischen Mumien wie auch zu den bei der Mumifizierung verwendeten Geräten können hierzu weitere Erkenntnisse liefern.


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Kernaussagen

  • Die Kasuistik bestätigt den hohen Stellenwert der CT als nicht destruktive Untersuchungsmethode von Mumien.

  • Zusätzlich zu medizinischen Aspekten können CT-Untersuchungen Einblicke in Mumifizierungsmethoden und Rituale verschiedener Kulturen geben.

  • CT-Befunde sollten im Kontext mit kulturhistorischen Überlieferungen interpretiert werden.


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Korrespondenzadresse

Dr. Stephanie Panzer
Radiologie, Unfallklinik Murnau
Prof.-Küntscher-Straße 8
82418 Murnau am Staffelsee
Germany   
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Fax: ++ 49/88 41/48 27 28   


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Abb. 1 Fotografie des Mumienkopfes. Reste der Leinenumwicklung und das rötliche Kopfhaar sind erhalten. Durch die Balsamierung des Körpers mit verschiedenen Substanzen, wie z. B. Bitumen und aufgrund der darin befindlichen Farbstoffe hat sich die Haut dunkel verfärbt. © German Mummy Project, Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim.
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Abb. 2 Trauma und transnasale Gehirnentfernung. a Dreidimensionale Oberflächenrekonstruktion mit Illustration des Defektes des Os parietale beidseits im dorsalen Anteil mit kaudaler Begrenzung durch die Sutura lambdoidea. Linksseitig sind Frakturausläufer in die angrenzende Kalotte erkennbar. b Sagittale multiplanare Rekonstruktion mit Darstellung des Kalottendefektes und der erhaltenen Weichteildeckung durch die Galea, die Risse aufweist (langer Pfeil). Abflachung des dritten und vierten Halswirbelkörpers ventral an der Deckplatte. Defekt der vorderen Schädelbasis (kurze Pfeile), dislozierte Fragmente im transnasalen Zugangsweg und in der Sella turcica (Pfeilkopf). c Paraaxiale multiplanare Rekonstruktion mit Darstellung des linkseitigen transethmoidalen Zugangsweges (Sternchen) und des Defektes der ventralen Keilbeinhöhlenbegrenzung (Pfeil). Das Nasenseptum weist im mittleren und hinteren Anteil Defekte auf und weicht nach rechts ab. Zu beachten sind die Kalottenfragmente dorsal in der hinteren Schädelgrube und der gute Erhaltungszustand der intraorbitalen Weichteilstrukturen.
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Abb. 3 Das Mundöffnungsritual. a Sagittale multiplanare Rekonstruktion mit erkennbaren nicht dislozierten Frakturen des oberen Schneidezahns in Höhe des Mundspaltes (Pfeil) als möglicher Hinweis auf eine gewaltsame Mundöffnung während der Balsamierung. Anlagebedingt geringer Überbiss. b Fischschwanzmesser. Vorgeschichtlich oder Frühzeit, Feuerstein, Länge 20 cm, Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim, Inv. 5106 (Foto: Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim; Sh. Shalchi). c Das Mundöffnungsritual. Szene im Totenbuch des Hunefer, 19. Dynastie, um 1280v. Chr., British Museum, London (© The Trustees of the British Museum).