Aktuelle Urol 2006; 37(1): 6-10
DOI: 10.1055/s-2006-932270
Referiert und kommentiert

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Radikale Prostatektomie - Modifikationen erhöhen Potenzrate

Further Information

Publication History

Publication Date:
07 February 2006 (online)

 
Table of Contents

Seit 1999 haben Marc S. Chuang und Mitarbeiter von der University of Chicago, USA, in ihrer Klinik zwei Modifikationen bei der nervenerhaltenden radikalen retropubischen Prostatektomie nacheinander eingeführt: Die frühe Freipräparation des Gefäß-Nerven-Stranges vor der Dissektion der hinteren membranösen Urethra und den Einsatz einer Lupe mit 2,5facher Vergrößerung während der frühen Freipräparation des Gefäß-Nerven-Stranges, um die Sicht auf das Operationsfeld zu verbessern. Die Autoren bewerteten die Ergebnisse retrospektiv (J Urol 2005; 173: 537-539).

Ein einziger Operateur nahm zwischen 1998 und 2003 bei 313 Männern bilaterale nervenerhaltende Eingriffe wegen eines Prostatakarzinoms vor. Die Autoren der Studie teilten die Patienten in drei Gruppen auf: Gruppe 1 wurde standardmäßig operiert, Gruppe 2 mit der frühen Präparation und Gruppe 3 mit der frühen Präparation und Lupeneinsatz. Die durchschnittliche Nachbeobachtungszeit betrug 15,9 Monate.

Die gesamte Potenzrate lag in Gruppe 1 bei 40,5%, in Gruppe 2 bei 54,8% und in Gruppe 3 bei 66,1%. Die durchschnittliche Zeit bis zur wiedererlangten Potenz betrug 10,7, 8,5 und 2 Monate. Die Autoren fanden signifikante Unterschiede in der gesamten Potenzrate zwischen allen Gruppen. Die durchschnittliche Zeit bis zur wiedererlangten Potenz wurde zwischen den Gruppen 1 u. 3 und zwischen den Gruppen 2 u. 3 signifikant verbessert.

Zoom Image

Radikale Prostataentfernung (Bild: Praxis der Männergesundheit, Thieme, 2003).

Die gesamte Potenzrate betrug bei den 40- bis 49-Jährigen 80%, bei den 50- bis 59-Jährigen 72,7%, bei den 60- bis 69-jährigen 61,6% und bei den 70-jährigen und älteren Patienten 33,3%. Die durchschnittliche Zeit bis zur wiedererlangten Potenz lag in den 4 Gruppen bei 2,5, 1,9, 1,9 und 4 Monaten.

Kleinere Modifikationen bei der retropubischen radikalen Prostatektomie scheinen für Männer über 50 Jahre am nützlichsten zu sein. Bei jüngeren Patienten werden unabhängig von der Operationsmethode allgemein gute Ergebnisse erzielt. Die zusätzliche Verwendung einer Lupe erhöht die Potenzraten weiter und vermindert die durchschnittliche Zeit bis zur Wiedererlangung der Potenz dramatisch, bemerken die Autoren.

Dr. Ralph Hausmann, Frankfurt

#

Erster Kommentar

Zoom Image

H. Huland

#

Radikale Prostatektomie

Die Arbeit von der Arbeitsgruppe aus Chicago um Charles B. Brendler beschäftigt sich mit der nerverhaltenden radikalen Prostatektomie zur Behandlung des lokalisierten Prostatakarzinoms. In drei unterschiedlichen Gruppen hat einer der Autoren zunächst eine s. g. Standard-nerverhaltende-Prostatektomie durchgeführt, in einer zweiten Gruppe hat er das neurovaskuläre Bündel zunächst von der Prostata und proximalen Harnröhre getrennt. In einer dritten Gruppe hat er das gleiche getan, aber eine Lupenbrille benutzt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Potenzrate in den 3 Gruppen von 40,5 auf 54,8% und schließlich auf 66,1% gesteigert werden konnte. Die mittlere Zeit zum Erreichen der Potenz hat sich in der letzten Gruppe signifikant verkürzt.

Die Ergebnisse verwundern mich in keiner Weise. Seit über 10 Jahren praktizieren wir die Technik der frühen Nervisolierung auf beiden Seiten, bevor die Harnröhre durchtrennt wird. Wir tun dies, im Gegensatz zu anderen bekannten Zentren, wie dem Johns Hopkins Krankenhaus und dem Memorial Sloan Kettering Cancer Center. Seit über 10 Jahren benutzen wir auch Lupenbrillen, zunächst mit 2 œfacher, mittlerweile mit 3 œfacher bis 4facher Vergrößerung. Obwohl das mittlere Alter der in Hamburg operierten Patienten identisch mit dem der Gruppe aus Chicago ist, beobachten wir seit Jahren weitaus bessere Ergebnisse, als die die hier in dieser Studie berichtet werden. 60% aller in Hamburg operierten Patienten, die vor der Operation potent waren und sich einer bilateralen Nerverhaltung bei der radikalen Prostatektomie unterzogen haben, sind voll potent in dem Sinne, dass sie ohne 5-Phosphodiesterasehemmer Geschlechtsverkehr durchführen können. Weitere 30% können dies mit den bekannten Medikamenten. In der besten Gruppe der vorliegenden Studie beträgt die Zahl derer, die mit und ohne PDE-5-Hemmer Geschlechtsverkehr ausführen konnten 66% und nicht wie bei uns 90%.

Weitere Schwächen dieser Arbeit sind die Tatsache, dass es sich um den Vergleich historischer Kollektive handelt, so dass ein Lernprozess, der bei dem Operateur über die Jahre eingesetzt hat, möglicherweise auch ein besserer Selektionsprozess, die Ergebnisse auch mit beeinflussen kann. Unzureichend ist die Beschreibung der Methode - hier heißt es lediglich: "All potency data were patient reported and analyzed by an independent third party." Hier wird nicht klar, ob international validierte Fragebögen benutzt worden, welche Kriterien eingesetzt wurden. Schließlich wird nicht deutlich, inwieweit die präoperative Potenz erfasst wurde.

Zusammenfassend verwundern die Ergebnisse nicht, dass frühe Nervisolierung und die Verwendung von Lupenbrillen die Ergebnisse verbessern. Die hier operativ berichteten Ergebnisse sind gut, aber nicht übermäßig gut. Methodisch zeigt diese Arbeit erhebliche Schwächen.

Prof. Hartwig Huland, Hamburg

#

Zweiter Kommentar

Zoom Image

R. Harzmann

#

Zweifel und Kritik beim näheren Hinsehen

Ch. B. Brendler ist ein wohl renommierter, nicht mehr ganz junger und gerade auch deswegen besonders erfahrener Urologe. Es ehrt ihn, dass er einen von ihm ca. 90 x pro Jahr durchgeführten Standardeingriff auch nach Jahren noch nach dem Motto modifiziert: "Wer aufhört besser zu werden, hat aufgehört gut zu sein."

Die Botschaft seiner Mitarbeiter lautet, dass CBB seit 08/02 das neurovaskuläre Bündel (NVB) noch vor der Durchtrennung der hinteren Harnröhrenzirkumferenz ablöst, eine Lupenbrille verwendet und dadurch die Gesamtpotenzraten seiner RRP-Patienten auf 66,1% statt bisher 40,5 bzw. 54,8% verbessert hat. Dies bestätigt all die Operateure, die dieses Konzept ohnehin schon länger verfolgen, und sollte andere ermutigen, Gleiches zu tun, zumal gleichzeitig die Potenz-Rehabilitation von 10,7 bzw. 8,2 auf 2 Monate verkürzt wurde.

Diese Daten sind ebenso überzeugend wie nicht überraschend. Man könnte sich daher rasch neuer Pflichtlektüre zuwenden, - wären da nicht Zweifel und Kritik, die sich aus näherem Hinsehen ergeben: Wenn denn frühzeitige Präparation des NVBs und Lupenbrille sinnvolle - weil wirksame - Verbesserungen sind, warum profitieren da-von die 50- bis 69-Jährigen, nicht aber die 40- bis 49-Jährigen? Letztere liegen trotz "herkömmlicher" OP-Technik (Gruppe 1) in Sachen Erektionserhalt mit 81,8% noch vor den altersgleichen Männern der Gruppen 2 (75 %) und 3 (80 %). Ist also das NVB jüngerer Männer robuster als das älterer? Man könnte zu diesem Rückschluss neigen, wäre da nicht das Phämomen, dass in Gruppe 1 ausgerechnet die "jüngeren" Männer mit den besten Potenzresultaten deutlich schlechtere Erektions-Recovery-Zeiten (12,4 Monate!) zeigten als 50- bis 59-Jährige (10,9 Monate) und die noch älteren Männer (8,4 Monate). Nach Deutung und/oder Diskussion dieser enigmatischen Situation sucht man im Text vergebens.

Auch wenn der gelernte Mitteleuropäer beim Studium US-amerikanischer Fachliteratur reflexhaft in Demuthaltung verfällt (und damit nicht selten Recht hat), -gegenüber dieser Publikation ist dies nicht angebracht, weil essenzielle Zusatzinformationen fehlen. Anders ausgedrückt: Der/die mit dem Thema "operative Therapie des PCA" näher befasste Urologe/-in möchte mehr wissen als Alter und Erektionsfähigkeit von Männern, die 3 diskret unterschiedlichen OP-Techniken unterzogen worden sind. Da der ein- bzw. beiderseitige Erhalt des NVBs nach inzwischen allgemein akzeptierter Überzeugung positive Effekte auch auf die Kontinenz und die Schnelligkeit ihrer Wie-derherstellung hat, hätte der/die Kundige knapp gehaltene Hinweise zu dieser Frage erwarten dürfen. Da ein erektionsrehabilitierter Mann nach RRP im Fall einer mehr oder weniger ernsthaften Inkontinenz an seinem Potenzerhalt kaum Freude haben dürfte, sind Hinweise auf die Kontinenzraten nachvollziehbare Erwartungshaltung des Lesers.

Mehr noch gilt dies für die Frage, nach welchen klinischen Kriterien in Chicago die Entscheidung für oder gegen einen in diesem Fall beiderseitigen Erhalt des NVBs gefällt wird (Gleason Score, Biopsiezahl, Prostatavolumen, "Patienten-Volumen", ein- oder beiderseitig positive Biopsie, PSA), woraus dann zwangsläufig die Forderung nach Informationen zur Rate positiver Schnittränder resultiert. Da im Rahmen der RRP nach wie vor die kurativen Aspekte doch wohl deutlich vor den funktionellen rangieren und bei diesen die Kontinenz noch wichtiger ist als die Potenz, erwartet der/die verbesserungsfreudige Fachkollege/-in die genannten Informationen zu Recht.

Selbst die Daten zum Erektions-Verhalten bzw. zur Erektionsqualität - so erfreulich sie sind - verlieren angesichts der Tatsache, dass objektive Messverfahren (z. B. nächtliche Tumeszenzanalysen) und validierte Fragenbögen nicht angewandt worden sind, an Wert.

Hat der Kommentator dieser Publikation eine zu große Erwartungshaltung gegenüber US-amerikanischen Publikationen oder hat er Recht, wenn er zu dem Resümee kommt: "Der Vorhang zu und alle Fragen offen"?

Prof. Rolf Harzmann, Augsburg

#

Dritter Kommentar

Zoom Image

D. Kröpfl

#

Frühzeitige Mobilisation schont Nervengefäßbündel

Seit der Einführung der von Walsh und Donker inaugurierten, durch deren anatomische Studien begründeten, anatomisch orientierten radikalen retropubischen Prostatektomie, wurde diese Operation zu einem weit verbreiteten Mittel zur Behandlung des Prostatakarzinoms.

Diese Operation wird zunehmend häufiger angewandt bei jüngeren, sexuell aktiven Patienten, bei denen durch Früherkennung ein Prostatakarzinom diagnostiziert wurde. Der Versuch, nervensparend zu operieren, was vielen Patienten sehr wichtig ist, hat einen weiteren, sehr positiven Effekt, nämlich das frühzeitige Auftreten und der Erhalt der Kontinenz. So bezeichne ich die Operation im Aufklärungsgespräch mit dem Patienten als eine "funktionserhaltende radikale Prostatektomie". Chuang und Mitarbeiter beschreiben eine operative Technik, bei der unter Zuhilfenahme der optischen Vergrößerung zuerst die beiden Nervengefäßbündel bilateral entlang der gesamten Prostata freipräpariert werden. Erst dann durchtrennen sie auch die hintere Harnröhrenwand und mobilisieren die Prostata auch aszendierend. Durch Anwendung dieser operativen Technik konnten sie die Gesamtpotenzrate und insbesondere auch die Zeit bis zum Erreichen der Potenz deutlich verringern.

Ich persönlich hatte die Möglichkeit, im Frühling 2002 Herrn Prof. Huland, der diese Technik ohne die Eröffnung der ventralen Harnröhrenwand anwendet, bei einigen radikalen Prostatektomien zu assistieren und wende diese Technik seit dieser Zeit an. Die Lupe, die ich dabei benutze, hat eine 4fache optische Vergrößerung, was im Zusammenhang mit der Anwendung des Kopflichtes eine ausgezeichnete Darstellung des Musculus sphinkter externus, der vorderen Rektumwand und beider Nervengefäßbündel ermöglich. Seitdem - nach gewissem Widerstand - alle Operateure unserer Abteilung die gleiche Technik und die gleichen optischen Hilfsmittel benutzen, verlässt eine deutliche Mehrzahl an Patienten die Abteilung mit minimalen Anzeichen einer Inkontinenz und die urethrovesikale Anastomose zeigt bei mehr als 80% der Patienten am 5. postoperativen Tag Dichtigkeit. Darüber hinaus ist auch bei voroperierten, vorbestrahlten oder hormonell vorbehandelten Patienten seit Anwendung dieser operativen Technik die Rektumverletzung in Vergessenheit geraten.

So ist aus meiner Sicht die Anwendung einer möglichst starken optischen Vergrößerung bei der Durchführung einer radikalen Prostatektomie eine Voraussetzung, um diesen Eingriff funktionserhaltend zu gestalten. Die von Myers und Huland beschriebene Technik der frühzeitigen Mobilisation der Nervengefäß- bündel ermöglicht, wie im kommentierten Artikel beschrieben, offensichtlich eine Schonung dieser sensiblen Strukturen, resultierend in einem frühzeitigen Erreichen und einer Gesamtverbesserung der Potenz.

Prof. Dr. Darko Kröpfl, Essen

#

Vierter Kommentar

Zoom Image

A. Löser

#

Schlussfolgerung muss erheblich infrage gestellt werden

Einer der Schlüssel zum Verständnis des immerhin mit CME-Punkten aufgewerteten Artikels von Chuang et al. aus Chicago liegt in einem Satz des "Materials and Methods"-Paragraphen: "All surgeries were performed by a single surgeon." Es zeigen sich im Vergleich der 3 operierten Patientengruppen durchaus deutliche Verbesserungen der postoperativen Potenz. Ebenso eine deutliche Verkürzung des postoperativen Zeitintervalls bis diese erreicht wird (wenn auch mit einer zunehmenden Anzahl von Patienten, welche diesen Zeitpunkt nur mittels eines medikamentösen "supports" so früh erreichen!).

Doch ob dies auf die nur geringfügige Modifikation einer Operationstechnik oder gar auf den Einsatz einer Lupenbrille zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Interessant wäre zu wissen, ob Brendler seine über die Zeit verbesserten Ergebnisse auch ohne die geänderten technischen Details und mit bloßem Auge allein aufgrund der zunehmenden Erfahrung erzielt hätte und welche Erfahrung seine Kollegen an der gleichen Klinik gemacht haben. Es liegt in der Natur der Sache, dass Operationstechniken mit der Zeit verfeinert werden; Ziel solcher Modifikationen ist selbstverständlich immer entweder eine Verbesserung der funktionellen Ergebnisse oder aber eine Reduktion der Komplikationen oder beispielsweise eine Verkürzung der Operationszeiten. Dass eine sorgfältigere, frühzeitige Schonung der neurovaskulären Bündel bei gleichzeitig verbesserten Sichtverhältnissen durch "optical loupe magnification" zu günstigeren Ergebnissen führt, ist eine absolut gerechtfertigte Hypothese für eine klinische Studie, die sich für eine vergleichende, randomisierte Studie geradezu angeboten hätte. Welcher Kliniker, andererseits, würde seinen Patienten eine Technik vorenthalten wollen, die er für eine sinnvolle Verbesserung hält? Man muss nicht einmal die strengen Kriterien der Evidence Based Medicine (EBM) anlegen, um die Schlussfolgerungen ("Using these techniques we have been able to demonstrate significant improvements in overall potency rates as well as time to achieve potency") erheblich in Frage zu stellen, zumal auch die aktuelle Zahlenlage anderer Studien die `Vorzeigegruppe` dieser hier vorliegenden Untersuchung eher "mässig potent` dastehen lässt.

Zusammengefasst handelt es sich also um eine retrospektive Fallserie (mit all den bekannten Schwächen dieses "Studiendesigns") mit dem Vergleich historischer, konsekutiver Gruppen mit Endpunkten ("overall potency rate", "mean time to potency"), die auch in prospektiven Untersuchungen notorisch schwierig zu fassen und von vielen Variablen abhängig sind (mit/ohne PDE-5-Hemmer; präoperativer Status; Alter zum Zeitpunkt der Operation); damit richtet sich dieser kurze Kommentar überhaupt nicht gegen die Schlussfolgerung der vorliegenden Arbeit an sich (und schon gar nicht gegen die beschriebenen technischen Details), sondern vielmehr gegen die Art und Weise, wie man zu dieser Schlussfolgerung gelangt; wenngleich mit einem gewissen Verständnis für die "Umstände". Wir haben uns längst daran gewöhnt, die Ergebnisse unserer klinischen Forschung mit den "Killer"-Argumenten der EBM infrage zu stellen. Leider hat dies kaum Konsequenzen für das unveränderte Überwiegen retrospektiver Untersuchungen in vielen wissenschaftlichen Journalen. Der kommentierte Artikel ist hierfür ein Beispiel.

Dr. Andreas Löser, Würzburg

 
Zoom Image

Radikale Prostataentfernung (Bild: Praxis der Männergesundheit, Thieme, 2003).

Zoom Image

H. Huland

Zoom Image

R. Harzmann

Zoom Image

D. Kröpfl

Zoom Image

A. Löser