Aktuelle Urol 2006; 37(1): 11-12
DOI: 10.1055/s-2006-932271
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Tamsulosin - Effekt beim akuten Harnverhalt bewertet

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Publication Date:
07 February 2006 (online)

 
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Die funktionellen Symptome der benignen Prostatahyperplasie können mit a-Blockern wie Tamsulosin gelindert werden. Malcom G. Lucas vom Morriston Hospital in Swansea, Großbritannien, und Mitarbeiter bewerteten die Effektivität von Tamsulosin bei der Behandlung von Patienten mit benigner Prostatahyperplasie und akutem Harnverhalt. In die randomisierte, doppelblinde und plazebokontrollierte Multizenterstudie waren Männer einbezogen. Sie wurden katheterisiert und erhielten Tamsulosin 0,4 mg Retardkapseln einmal täglich oder Plazebo. Nach bis zu acht Dosen wurde der Katheter entfernt (BJU International 2005; 95: 354-357).

34 Männer (48%) in der Tamsulosin- und 18 in der Plazebo-Gruppe (26%) benötigten nach dem Auslassversuch keinen erneuten Katheter am selben Tag. Die mit Tamsulosin behandelten Patienten konnten in der akuten Phase auch erfolgreicher urinieren (52 vs. 34%). Dies definierten die Autoren als eine Harnflussrate > 5 ml/s, ein Harnvolumen > 100 ml und ein Restharnvolumen ≤ 200 ml.

Die Patienten konnten ihre Medikation bis zu 26 Wochen lang einnehmen. Bei einer erneuten Katheterisierung wurden sie aus der Studie ausgeschlossen. Die Ausschlussrate, in der Hauptsache wegen einer notwendigen Re-Katheterisierung (60%), war mit insgesamt 81% (120 Männer) sehr hoch. Die Inzidenz der Nebenwirkungen war in beiden Gruppen ähnlich. Tamsulosin kann zur Behandlung von Männern mit akutem Harnverhalt empfohlen werden. Der α-Blocker verringert die Wahrscheinlichkeit, dass erneut ein Katheter gesetzt werden muss, signifikant, schließen die Autoren.

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Fazit

Dies gilt jedoch nur für die akute Phase. Eine valide Analyse der Langzeitwirkung von Tamsulosin war wegen der hohen Ausschlussrate von Patienten nicht möglich. Viele Fragen bleiben noch offen, bemerken die Autoren weiter. So ist es nicht möglich vorherzusagen, welche Männer auf a-Blocker ansprechen und welche nicht.

Dr. Ralph Hausmann, Frankfurt

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Kommentar

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Ch. Gratzke

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Beleg für den Einsatz von Tamsulosin nur in der Akutphase erbracht

Ziel der vorliegenden Studie war es, die Wirksamkeit des α-Blockers Tamsulosin in der Behandlung von Patienten mit akutem Harnverhalt (AHV) bei benignem Prostatasyndrom (BPS) zu untersuchen. In der randomisiert, doppelblind und plazebokontrolliert geführten multizentrischen Studie wurden 149 Männer mit einem Durchschnittsalter von 69,4 Jahren nach AHV zunächst mit einem Harnblasenkatheter versorgt und anschließend mit Tamsulosin 0,4 mg/Tag oder Plazebo für 3 bzw. 8 Tage behandelt (akute Phase). Anschließend wurde der Katheter entfernt und der Erfolg beider Gruppen hinsichtlich Re-Katheterisierung und Miktionsverhältnissen verglichen. Insgesamt war bei 48% der Tamsulosingruppe und bei 26% der Plazebo-Gruppe eine Katheterisierung nach Auslassversuch nicht mehr erforderlich; auch zeigten sich in der Verum-Gruppe bessere Ergebnisse bezüglich des maximalen Harnstrahls, der Restharnvolumina sowie der Miktionsvolumina als in der Vergleichsgruppe. Im Verlauf sollte die Medikation für weitere 26 Wochen eingenommen werden (Langzeitphase). Dabei war die Rate der Studienabbrecher mit 81% außergewöhnlich hoch. Eine sinnvolle Auswertung der Langzeitdaten war somit nicht möglich. Das Nebenwirkungsspektrum entsprach dem der aktuellen Literatur.

Die Autoren schließen daraus, dass aufgrund dieser Ergebnisse der Einsatz von Tamsulosin nach Katheterisierung bei akutem Harnverhalt empfohlen werden und so die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Harnverhaltes in der Akutphase signifikant reduziert werden kann.

Diese Untersuchung ist insofern von großem Interesse, als eine Verbesserung der medikamentösen Begleit-Therapie beim AHV die Notwendigkeit einer operativen Sanierung der Prostata hinauszögern bzw. sogar verhindern könnte. Bemerkenswert ist außerdem, dass sie randomisiert, doppelblind, plazebokontrolliert und multizentrisch aufgebaut wurde. Allerdings scheint sie wenig geeignet zu sein, den Stellenwert des α-Blockers Tamsulosin in der Begleittherapie des akuten Harnverhaltes herauszustellen. Folgende Umstände sprechen dagegen:

Primärer Endpunkt der Studie war ein erfolgreicher Katheterauslassversuch. Dieser wurde definiert durch einen maximalen Harnstrahl von > 5 ml/sec, einem Restharnvolumen von ≤ 200 ml sowie einem Miktionsvolumen ≥ 100 ml nach Katheterentfernung. Gemessen an diesen Kriterien unterschied sich Tamsulosin gegenüber Plazebo nicht signifikant (34 vs. 24%). Daher wurde die Definition eines erfolgreichen Auslassversuches zugunsten "weicherer" Kriterien geändert. Eine Subanalyse verglich beide Gruppen hinsichtlich der Fähigkeit des Patienten, das Krankenhaus nach Auslassversuch nach der "subjektiven Meinung des Untersuchers" ohne Katheter verlassen zu können. Hier fand sich im Gegensatz zu den primär angelegten Kriterien nun ein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen (48 vs. 26%, s.o.). Für weitere Unteranalysen wurde von den Parametern maximaler Harnstrahl, Restharnvolumen und Miktionsvolumen nur noch die Kombination von zwei dieser Parameter gefordert. Der Grenzwerte des tolerierten Restharnvolumens wurde auf _ 250 ml angehoben. Erst dann erreichten die Unterschiede statistische Signifikanz (52-58% vs. 34-41%).

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Bei genauerer Betrachtung der Daten muss der Behandlungserfolg durch Tamsulosin nach AHV selbst nach diesen Kriterien zurückhaltend bewertet werden. Bei mehr als der Hälfte der Patienten unter Behandlung durch Tamsulosin gestaltete sich der Auslassversuch nicht erfolgreich (37/71 Patienten bzw. 52%, 52/70 Patienten bzw. 74 % unter Placebo). Über den weiteren Verlauf der Patienten mit erfolgreichem Auslassversuch wird nicht berichtet, da die Zahl der Studienabbrecher mit 120 Teilnehmern (81%) extrem hoch war (s.o.). Dies war zum größten Teil (60%) bedingt durch die Notwendigkeit einer Re-Katheterisierung zum Ende der akuten Phase. Daher kann keine Beurteilung der Langzeitwirkung von Tamsulosin gegenüber Plazebo getroffen werden, wobei gerade diese Ergebnisse von besonderer Bedeutung gewesen wären. Bei unbehandelten Patienten nach akutem Harnverhalt war in einer 5-Jahres-Studie eine Re-Katheterisierungsrate bzw. die Notwendigkeit einer operativen Intervention mit 84% nach 5 Jahren beschrieben worden. Diese Daten belegen die hohe Wahrscheinlichkeit, nach AHV unbehandelt ein Rezidiv zu erleiden. Nur Langzeitdaten können Aufschluss darüber geben, ob das Präparat einen sinnvollen Nutzen bei der Behandlung eines Akuten Harnverhaltes erbringt.

Eine Stratifizierung in verschiedene Altersgruppen war in der Analyse nicht möglich. Ein erfolgreicher Auslassversuch in der Gruppe der Männer > 80 Jahre konnte nur je einmal durchgeführt werden, insgesamt waren in allen Altersgruppen der Tamsulosin-Gruppe lediglich 24 (34%) erfolgreiche Auslassversuche zu verzeichnen gegenüber 17 in der Plazebo-Gruppe (24%).

Nahezu zeitgleich mit der vorliegenden Arbeit wurde von der ALFAUR-Gruppe (ALFuzosin in Acute Urinary Retention) eine in Aufbau und Fragestellung sehr ähnliche Studie veröffentlicht (McNeill et al., Urology 2005). Hier wurde der Effekt des α-Blockers Alfuzosin auf einen erfolgreichen Katheterauslassversuch nach erstmaligem AHV bei BPS in der akuten Phase und 1,3 sowie 6 Monate später bei 360 Männern untersucht. Sowohl in der akuten Phase als auch nach bis zu 6 Monaten Behandlungsdauer konnten die Autoren signifikant bessere Ergebnisse nach Behandlung mit Alfuzosin gegenüber Plazebo feststellen. Größter Vorteil dieser Studie gegenüber der Tamsulosin-Studie ist zweifellos der Beobachtungszeitraum einer ausreichend hohen Zahl an Studienteilnehmern von 6 Monaten nach Auftreten des akuten Harnverhaltes. Somit konnten auch Risikofaktoren für das erneute Auftreten eines akuten Harnverhalts wie das Restharnvolumen und die Höhe des PSA-Werts identifiziert werden.

Gegenwärtig ist in Europa nur der α-Blocker Alfuzosin zur Behandlung des akuten Harnverhalts zugelassen. Die vorliegende Studie kann allenfalls eine Empfehlung geben für den Einsatz von Tamsulosin in der akuten Phase eines AHVs. Studien mit längeren Laufzeiten und höheren Fallzahlen sind für eine abschließende Beurteilung erforderlich.

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Verschiedene Wachstumsrichtungen bei benigner Prostatahyperplasie (Bild: Praxis der Urologie, Thieme, 2003).

Literatur beim Autor

Dr. Christian Gratzke, München

 
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Ch. Gratzke

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Verschiedene Wachstumsrichtungen bei benigner Prostatahyperplasie (Bild: Praxis der Urologie, Thieme, 2003).