PiD - Psychotherapie im Dialog 2018; 19(02): 115-116
DOI: 10.1055/a-0556-1459
Resümee
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das „Böse“ und die Psychotherapie

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Publication Date:
04 June 2018 (online)

Es reicht jetzt aber auch, oder? Sonntagabend beim „Tatort“ mögen komplexe Sichtweisen auf kriminelle Handlungen gut passen, aber meistens sind wir doch froh, wenn der Täter gefasst ist, das verwirrende Puzzle gelöst ist, sich die Zusammenhänge plausibel erschließen und der Abspann kommt. In unserem therapeutischen Alltag möchte sich die Mehrheit von uns nicht so gerne mit diesem Thema beschäftigen. Wir haben unseren Beruf angetreten, um Leid zu lindern: dies meint das Leid unserer Klienten und eher nicht das Leid derer, die mit ihnen leben oder unter ihnen leiden. Verändert die Beschäftigung mit delinquentem Verhalten von Patientinnen und Patienten die therapeutische Perspektive? Was passiert, wenn wir unseren Patienten ihre Berichte nicht mehr „abnehmen“ sondern misstrauisch nach Inkongruenzen suchen? Sind unterschiedliche Erzählungen von Angehörigen, Kollegen und Patienten ein sicheres Zeichen dafür, dass irgendjemand lügt? Und wenn ja, wem sollten wir unseren Glauben und damit unser Vertrauen schenken? Halten wir den höflichen jungen Mann in der Sprechstunde für fähig, seinen Stiefvater zu töten oder hat er in einer Ausnahmesituation unter Alkoholeinfluss nur damit gedroht? Was hatte er noch über seine Gefängnisstrafe vor einigen Jahren gesagt? Wollen wir mit „solchen“ Menschen eigentlich etwas zu tun haben?

Differenzierte Betrachtung des „Bösen“ durch Perspektivwechsel

Zugegeben, auch die therapeutische Welt ist einfacher, wenn es gelingt, unbequeme Aspekte auszublenden. Eine Komplettierung der Wahrnehmung führt in aller Regel dazu, dass die so oft beschworenen Grautöne zunehmen: „gut und böse“, „weiß und schwarz“ werden mithilfe von Perspektivwechseln relativiert.

Genau das haben wir mit dem Themenschwerpunkt dieses Heftes versucht: Mithilfe von sehr unterschiedlichen Perspektiven wollten wir eine differenzierte Betrachtung von etwas ermöglichen, das trotz mancher Abwehrhaltung auch Interesse bindet. Die Abgründe menschlichen Handelns lösen mindestens so viel Anziehung wie Abstoßung aus. Wenn das nicht so wäre, würden Kriminalromane und -filme sich nicht so einer großen Beliebtheit erfreuen. Dieses Interesse ist oft auch Ausdruck des Verstehen-wollens. Plausibilität scheint uns zu entlasten und das Gefühl von Sicherheit wiederherzustellen. Das unerklärlich und unverständlich „Böse“ fördert das Erleben von Unberechenbarkeit. Forensische Fragestellungen ranken sich daher ganz wesentlich um die Prognose: Wie hoch ist die Gefahr einer erneuten Tat? Was kann wer tun, um dies zu verhindern? Gibt es überhaupt eine „Therapie“ dagegen? Erreichen wir die Betroffenen? Und wenn ja, wie erfolgreich sind die Mittel, die uns zur Verfügung stehen?


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Das „Böse“ in Philosophie und Religion

Ganz bewusst war uns Herausgebern wichtig, philosophischen und religiösen Betrachtungen zum Thema des „Bösen“ ausreichend Raum zu geben und den Kontext therapeutischen Denkens damit zu erweitern. Dies gilt auch für Fragen der Autonomie von Patienten, die zumindest zeitweise in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt sind: ein Problemfeld, dass sich auch für diejenigen von uns Therapeuten eröffnet, die nicht in der Forensischen Psychiatrie tätig sind.

Wie sich ein solcher Arbeitsplatz anfühlt, mag sich so mancher Kollege oder Kollegin nicht vorstellen. Dennoch sind insbesondere zahlreiche psychologische Psychotherapeuten vor allem im Verlauf ihrer Ausbildung in Forensischen Kliniken tätig und dies oft über viele Jahre hinweg. Ihre berufliche Zufriedenheit bewegt sich in einem weiten Spektrum. Das Erstaunen und Unverständnis von Kollegen über diese Wahl des Arbeitsplatzes ist dagegen fast regelhaft gegeben. Dies ebenso zu thematisieren wie die Möglichkeit zu eröffnen, auf eine jahrzehntelange gutachterliche Erfahrung blicken zu können, war eines unserer Anliegen. Dass dies gelungen ist, verdanken wir den Autoren, die bereit waren, darüber zu schreiben.

Einfache Antworten sollte der Themenschwerpunkt dieses Heftes dagegen nicht geben. Vermutlich hätten wir dazu auch weder Beiträge noch Autoren gefunden. Wir hoffen daher, dass sich am Ende der Beiträge viele Ihrer alten Fragen verändert haben und würden Ihnen wünschen, so manche neue Frage gefunden zu haben.

Bettina Wilms & Henning Schauenburg


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