Erfahrungsheilkunde 2019; 68(02): 53
DOI: 10.1055/a-0760-0754
Editorial
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„Es ist unglaublich, wie viel Kraft die Seele dem Körper zu leihen vermag.“

(Wilhelm von Humboldt, 1767–1835)
Volker Schmiedel
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Publication Date:
30 April 2019 (online)

Ende März wurde es in den Nachrichten verbreitet: Im letzten Jahr gab es 107 Millionen Fehltage in Betrieben durch psychische Erkrankungen. Die Fehltage haben sich in den letzten 10 Jahren verdoppelt. Psychische Krankheiten entwickeln sich zu einer Epidemie, die andere Krankheiten wie orthopädische Leiden oder kardiovaskuläre Erkrankungen weit hinter sich zu lassen drohen.

Grund genug, ein ganzes Heft der Psychosomatik zu widmen – also der Lehre, dass psychische Zustände sich auf den Krankheits- oder Gesundheitszustand des Menschen auswirken und sich in körperlichen Symptomen äußern können. Eine positive Deutung der Psychosomatik spiegelt das obige Zitat eines deutschen Universalgelehrten wider.

Der ärztlichen Kompetenz wurde in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit als einer gelingenden Arzt-Patienten-Kommunikation zuteil. Dass letztere mindestens genauso wichtig ist, belegt der entsprechende Artikel in diesem Heft (S. 56). Nicht gelingende Arzt-Patienten-Kommunikation kann ein entscheidender Faktor sein, der Heilung verzögert, vielleicht sogar verunmöglicht.

Körperliche Bewegung hat bei vielen Erkrankungen ihren Nutzen unter Beweis gestellt. Mit psychischen Erkrankungen wird Bewegung von vielen Patienten und Therapeuten immer noch nicht in einen Zusammenhang gebracht, obwohl Empirie und Wissenschaft hier eine klare Sprache zugunsten sportlicher Betätigung bei psychischen Krankheiten sprechen (S. 63).

Anima bedeutet in der lateinischen Sprache sowohl Atem als auch Seele. Unsere Altvorderen wussten also um Zusammenhänge, die die moderne Psychosomatik erst langsam wieder zu entdecken beginnt. Eine Entschleunigung des Atems vermag zur Entspannung beizutragen, wie der vorliegende Beitrag sowohl mit theoretischer Begründung als auch mit praktischen Beispielen unter Beweis stellt (S. 67).

Die indische Ayurveda-Medizin stellt eines der frühesten Medizinsysteme dar, die wir heute als ganzheitlich bezeichnen würden. Sie nimmt für sich in Anspruch, sowohl körperliche als auch psychische Krankheiten in gleicher Weise beeinflussen zu können, indem im Rahmen einer konstitutionellen Medizin gestörte Gleichgewichte wieder reguliert werden (S. 73).

Der Einfluss von Licht und Farben auf unsere Gesundheit und gerade auf unser psychisches Wohlbefinden darf als evident gelten – und zwar in der Bedeutung von Offensichtlichkeit. Gleich zwei Beiträge dringen tief in diese Thematik ein und begründen die Zusammenhänge im Sinne einer wissenschaftlich, physiologisch begründeten Evidenz (S. 79 und 87).

Es hat den Anschein, dass der Darm und sein Inhalt von der konventionellen Medizin nicht länger als notwendiges Übel, sondern als Grundlage des Funktionierens von körperlicher Leistungsfähigkeit und des Immunsystems angesehen wird. Spätestens seit der Entdeckung des „Bauchhirns“ ist auch die Verbindung zu mentalen, kognitiven und emotionalen Funktionen kein „Hirngespinst“ mehr, sondern etablierte Wissenschaft. In unserem Beitrag wird noch der Bogen zur „stillen Entzündung“ geschlagen und mit einer eindrucksvollen Kasuistik untermauert (S. 95).

Den Gegenpart zur Psychosomatik stellt die Somatopsychologie dar. Es geht also in beide Richtungen – die Seele beeinflusst den Körper genauso wie der Körper die Seele. Es besteht hier weniger eine Polarität als vielmehr eine Komplementarität. So wird der preußische Gelehrte vom Beginn des Editorials von der katholischen Mystikerin und Heiligen perfekt ergänzt:

„Tue Deinem Körper etwas Gutes, damit Deine Seele gern in ihm wohnt.“

(Theresa von Avila, 1515–1582)

Intellektuellen Gewinn und seelisches Vergnügen wünscht Ihnen herzlichst Ihr

Dr. Volker Schmiedel