Sportphysio 2020; 08(01): 4-7
DOI: 10.1055/a-0965-9239
Research

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Muskuloskelettale Schmerzen: Unter Anleitung trainieren!

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Die Grafik von L. Gifford zeigt, welche Faktoren das Schmerzempfinden beeinflussen. Therapeutische Übungen beeinflussen die Reaktion auf Schmerzen. Dabei können zentrale Schmerzprozesse, das Immunsystem und affektive Aspekte des Schmerzes unterschiedlich reagieren, wenn der Schmerz als nicht bedrohlich wahrgenommen wird. (Quelle: Thieme Gruppe nach Gifford L. Pain, the tissues and the nervous system: A conceptual model. Physiotherapy 1984; 1: 27–36)

Chronische muskuloskelettale Schmerzen sind nach wie vor eine große Herausforderung in Klinik und Forschung, denn obwohl die positiven Einflüsse von Trainingstherapie auf diese bekannt sind, ist das genaue Dosis-Wirkungs-Verhältnis von Trainingstherapie zu chronischen muskuloskelettalen Schmerzen unbekannt. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Verhältnisses stellen die Einstellung und das Verhalten von Therapeuten und Patienten zu Schmerzen während des Trainings dar. Ein Vergleich von schmerzvollen mit schmerzfreien Übungen zeigte einen kurzzeitigen, kleinen statistisch signifikanten Vorteil von schmerzvollen Übungen, vielleicht weil diese Übungen den Probanden vermittelten, dass das Erleben von Schmerzen gefahrlos ist.

Daher war das Ziel des Reviews, eine Übersicht über die möglichen zentralen oder peripheren Schmerzmechanismen zu geben und den Vorteil schmerzhafter gegenüber schmerzfreien Übungen bei muskuloskelettalen Beschwerden herauszustellen. Auch der Einfluss von Schmerzen auf das Immunsystem wurde thematisiert. Das Verständnis der Auswirkungen dieser Übungen im Zusammenhang mit den verschiedenen Mechanismen von chronischen muskuloskelettalen Schmerzen war der zentrale Aspekt dieser Untersuchung.

Im Kontext von chronischen Schmerzen beschreibt der Begriff zentrale Sensibilisierung die erhöhte Ansprechbarkeit von Nozizeptoren in Bezug auf sonst nicht schmerzhafte Reize. Der Begriff beinhaltet unterschiedliche Mechanismen, die mit einer erhöhten Schmerzempfindung einhergehen:

  • Hyperalgesie = verstärkte Schmerzantwort auf schmerzhafte Reize

  • Allodynie = Schmerzantwort auf an sich nicht schmerzhafte Reize (z. B. Umarmung bei Rückenschmerzen)

  • zeitliche Summation = progrediente Schmerzzunahme infolge wiederholter Stimuli gleicher Intensität (zentrale Schmerzbahnung, z. B. zunehmende Knieschmerzen bei wiederholten Kniebeugen)

  • geschädigte endogene Schmerzmodulation = Störung der eigentlich durch Aktivierung absteigender nozizeptiver Mechanismen und die Freisetzung endogener Opioide bestehenden Schmerzhemmung (Stichwort: „Schmerz vertreibt Schmerz“)

Im Zusammenhang mit der Chronifizierung von Schmerzen scheint außerdem das Immunsystem eine zentrale Rolle zu spielen: Es wird angenommen, dass durch die Veränderung der Aktivität der Gliazellen die zentrale Schmerzsensibilität verändert wird. Untersuchungen konnten z. B. eine erhöhte Aktivität von Gliazellen bei Patienten mit chronischen muskuloskelettalen Beschwerden feststellen, wie in der Studie berichtet wird.

Neben physiologischen Mechanismen spielen psychologische Faktoren eine wichtige Rolle in der Schmerzwahrnehmung. Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass die schmerzbedingte Angst den empfundenen Schmerz durch die Aufmerksamkeitsverschiebung auf den Schmerz verstärkt. Schon der Gedanke an möglicherweise schmerzhafte Übungen kann Schmerzen auslösen. Umgekehrt kann die Ausführung von supervisierten schmerzhaften Übungen das Denken der Patienten über den Schmerz und die Angst vor Schmerzen und möglichen Gewebsschädigungen positiv beeinflussen. Sicherheitshinweise wie das Erklären von Schmerzen hemmen offenbar die negativen Prozesse. Dies könnte zu einer Auflösung der Gedanken- und Bewegungsmuster beitragen, die in Folge der Angst vor Schmerzen entstanden sind. Darüber hinaus wird das Selbstwertgefühl durch die Wahrnehmung gebessert, dass eine Übung entgegen der ursprünglichen Annahme toleriert werden kann.

KOMMENTAR

Das Review belegt die Notwendigkeit von fachlich angeleitetem Training trotz und gerade bei Schmerzen. Es reduziert die Angst vor Schmerzen und Gewebsschädigungen und reduziert auch Schonhaltungen. Gerade bei Patienten mit chronischen muskuloskelettalen Beschwerden ist davon auszugehen, dass die Ausführung von schmerzhaften Übungen unter fachlich kompetenter Anleitung das Selbstwertgefühl und die Lebensqualität steigert.

AUF EINEN BLICK

Design: Narratives, nicht systematisches Review

Parameter: Vergleich und Verständnis von Schmerzmodellen und Training

Resultate: Schmerzhafte Übungen können das Selbstwertgefühl, die Angst vor Schmerzen und Vermeidungshaltungen verbessern.

Siri Goldschmidt

Smith BE, Hendrick P, Bateman M et al. Musculoskeletal pain and exercise – challenging existing paradigms and introducing new. Br J Sports Med 2019; 53(14), 907



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
07. Februar 2020

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