Diabetes aktuell 2019; 17(07): 262-263
DOI: 10.1055/a-1022-9340
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gefahrenzone Hypoglykämie

Werner Kern
1   Ulm
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Publication Date:
26 November 2019 (online)

Eine gefürchtete Komplikation in der Behandlung des Diabetes mellitus sind schwere Hypoglykämien, bei denen der Patient auf Fremdhilfe angewiesen ist. Es bestehen eine Reihe epidemiologischer Untersuchungen, die einen Zusammenhang von schweren Unterzuckerungen mit kardiovaskulären Komplikationen wie Herzinfarkten und Todesfällen, aber auch zerebrovaskulären Veränderungen bis hin zur Entstehung einer Demenz belegen. Nicht nur klinisch, sondern auch im MRT können Hypoglykämien einen ischämischen Schlaganfall imitieren. Nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein und auf Hilfe von eventuell fremden Menschen in der Öffentlichkeit angewiesen zu sein, ist eine extrem unangenehme Situation für die Betroffenen, die man kein zweites Mal erleben möchte. Entsprechend groß ist die Angst der betroffenen insulinbehandelten Patienten vor dem Auftreten schwerer Hypoglykämien.

In Befragungen geben mehr als drei Viertel der Menschen mit Typ-1-Diabetes an, zeitweise oder meistens Angst vor schweren Hypoglykämien zu haben. Diese Angst ist oft genauso groß wie die Befürchtung zu erblinden oder dialysepflichtig zu werden. Häufig ist die Angst vor Hypoglykämien bei den Angehörigen der betroffenen Patienten sogar noch größer, was eine erhebliche Belastung der Beziehung darstellen und nicht selten zu Konflikten im Zusammenleben führen kann. Stark ausgeprägte Hypoglykämieängste können dazu führen, dass normnahe Glukosewerte konsequent vermieden werden und damit das Erreichen einer guten glykämischen Kontrolle erschweren.

Wesentlich häufiger als schwere Hypoglykämien sind im Alltag jedoch leichte Unterzuckerungen. Befragungen von Menschen mit Typ-1-Diabetes und insulinbehandeltem Typ-2-Diabetes unter Alltagsbedingungen zeigen, dass 80 % der Menschen mit Typ-1-Diabetes und rund 40 % der Menschen mit insulinbehandeltem Typ-2-Diabetes innerhalb von 4 Wochen eine Unterzuckerung erleiden. Durch den zunehmenden Einsatz der Messsysteme zur kontinuierlichen Glukosemessung wird deutlich, dass unter Alltagsbedingungen auch häufig Phasen niedriger Blutzuckerwerte auftreten, die vom Patienten nicht wahrgenommen werden und somit bei der konventionellen Blutzuckerselbstkontrolle von Arzt und Patienten bislang unerkannt blieben.

Besonders viele dieser unbemerkten Unterzuckerungen treten dabei während des Nachtschlafs auf. Die Hypoglykämien können in der Nacht besonders protrahiert und ausgeprägt verlaufen, da während des Nachtschlafs die hormonelle Gegenregulation generell reduziert ist. Nur selten werden die Patienten durch eine nächtliche Hypoglykämie geweckt. Aber auch diese unbemerkten nächtlichen Hypoglykämien können mittelfristig durch Adaptationsprozesse des Gehirns zu einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung und damit zu einem erhöhten Risiko für schwere Unterzuckerungen führen, aber auch unmittelbar die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden am nächsten Tage doch erheblich beeinträchtigen.

Mehr als die Hälfte der Befragten geben an, auch nach einer nicht schweren nächtlichen Hypoglykämie am folgenden Tage moderat bis schwer beeinträchtigt zu sein. Von den Berufstätigen verpasst etwa jeder 5. nach einer nicht schweren nächtlichen Hypoglykämie Arbeitszeit oder Sitzungen am Tage oder erfüllt gestellte Aufgaben nicht rechtzeitig. Die Beeinträchtigung durch nächtliche Hypoglykämien dauert dabei 2–3-mal so lange wie nach nicht schweren Hypoglykämien am Tage. Menschen mit Insulinbehandeltem Typ-2-Diabetes geben an, sich bis zu 15 Stunden nach einer nächtlichen Hypoglykämie tagsüber in ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigt zu fühlen.

Dennoch werden solche leichten Unterzuckerungen nur von 20–40 % der Betroffenen dem behandelnden Arzt oder dem Diabetesberater berichtet – sei es durch eine Beeinträchtigung des Gedächtnisses nach einer leichten Hypoglykämie oder aus Scham, trotz guter Schulung bei der Blutzuckereinstellung versagt zu haben. Andererseits geben die Patienten an, dass bis zu einem Viertel der behandelnden Ärzte nicht nach Unterzuckerungen fragen. Somit werden viele der leichten Unterzuckerungen dem behandelnden Arzt oder dem Berater nicht bewusst.

Dieses Schwerpunktheft soll deshalb das Bewusstsein schärfen, gezielt nach Hypoglykämien zu fragen und in den Aufzeichnungen nach Phasen niedriger Glukosewerte zu forschen, um gemeinsam mit dem Patienten Strategien zu entwickeln, durch den sinnvollen Einsatz entsprechender Schulungsprogramme, Antidiabetika und Insulinen mit geringerem Hypoglykämierisiko und Diabetestechnologien wie kontinuierlichem Glukosemonitoring oder sensorunterstützter Pumpentherapie zukünftig das Auftreten von Hypoglykämien zu reduzieren. Es ist zu erwarten, dass dadurch die Effektivität der Behandlung von Hypoglykämierisiken und -ängsten und damit die Lebensqualität der Patienten weiter gesteigert werden kann.