Adipositas - Ursachen, Folgeerkrankungen, Therapie 2020; 14(01): 56-57
DOI: 10.1055/a-1083-0402
Gesellschaftsnachrichten
Mitteilungen der Deutschen Adipositas Gesellschaft

2. Sitzung des Begleitgremiums zur Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie; Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, 20.11.2019

Stellungnahme der DAG zu TOP 5: Ernährungskompetenz und Ernährungsaufklärung
  1. Ernährungskompetenz und Ernährungsaufklärung an der Schule sind evidenzbasiert nicht erfolgversprechend in der Primärprävention der Adipositas (Müller et al., KOPS-Studien). Die OECD rangiert schulbasierte Programme bei ROI-Bewertungen unter 1; das bedeutet, dass sich die Aufwendungen nicht rentieren und die Kosten höher sind als der Nutzen [Abb. 1].

  2. Bei der Reduktions- und Innovationsstrategie geht es um gesundheitsförderliche Rezepturverbesserungen von Produkten. Wir sehen hier die Forderung nach Ernährungsaufklärung und Ernährungskompetenz unter dem Dach dieser Strategie im Wesentlichen als Ablenkungsmanöver der Industrie, das mehr Aktionismus als wirksame Effekte zur Folge haben wird.

  3. Erste Priorität für Kinder und Jugendliche im Setting Kita und Schule hat die Umsetzung einer qualitätsgesicherten Kita- und Schulernährung (DANK-Forderung).

  4. Ausnahme: Zur Einführung des NutriScore in Deutschland sehen wir Bedarf für eine nationale Kampagne, die das intuitive Verständnis des Labelling in der Bevölkerung unterstützen kann. Massenmedienkampagnen haben nach OECD einen return on invest (ROI) von 4. Zu diesem Zweck könnte der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) oder das Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) beauftragt werden. Wir würden außerdem eine Massenmedienkampagne zum Thema „Trink Dich nicht dick!“ befürworten.

  5. Wir sprechen uns gegen die Durchführung von privatwirtschaftlichen Ernährungs-Kampagnen an Kitas und Schulen aus. Wir befürchten, dass hier Werbung im Namen von „Aufklärung“ betrieben werden soll oder tendenziöse Botschaften transportiert werden. Kitas und Schulen müssen werbefreie Räume bleiben, Lehrinhalte sollten nicht von der Industrie bestimmt werden.

  6. Bevor Ernährungs- und Aufklärungsmaßnahmen erwogen werden, sollte eine internationale Literatursuche gestartet werden, die klar überprüfbar die Evidenz und zu erwartende Wirksamkeit solcher Maßnahmen feststellt. Die DAG kann hier unterstützen.

  7. Grundsätzlich wird ein umfassendes Bündel politischer Maßnahmen notwendig sein, um die Adipositas zurückzudämmen (s. [Tab. 1]). Hier sollten Maßnahmen mit den höchsten ROI priorisiert werden. Wir sehen folgende drei Maßnahmen gemäß OECD als besonders erfolgversprechend an, die im Rahmen einer Reduktionsstrategie erwogen werden sollten:

    • Werbeverbot für Produkte mit Kinderoptik, die nicht dem Nährwertprofil der WHO-Europe (2015) entsprechen. ROI für die Regulation von Werbung nach OECD: 5,6 (höchste Bewertung von neun Maßnahmen!)

    • Einbezug weiterer Produktgruppen, wie Süßwaren und Außer-Haus-Verpflegung (Gemeinschaftsverpflegung, Snacking, Food to go, Bestell-Essen usw.)

    • Abgaben/Incentives für Händler und Discounter, um den Preiskampf bei Angeboten für qualitativ ungünstige Lebensmittel zu unterbinden (derzeit gibt es extrem hohe Preisnachlässe besonders für hochverarbeitete Lebensmittel um 20–50 %, z. B. bei Kaufland, Lidl und Aldi).

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Abb. 1 Datenquelle: OECD: The Heavy Burden of Obesity 2019.
Tab. 1

Empfehlungen des World Cancer Research Fund für primärpräventive Maßnahmen auf Bevölkerungsebene (Quelle: https://twitter.com/wcrfint/status/1196465085306343425/photo/1) „Keine Einzelmaßnahme wird die übergewichts- und Adipositas-Epidemie lösen können - wir brauchen einen konzertierten Ansatz“

World Cancer Research Fund

Kommentar zur Situation in Deutschland (S. Gerlach)

Standardisierte Nährwertkennzeichnung

Verpflichtend nach der EU-Lebensmittelinformations-Verordnung auf der Verpackungsückseite; freiwillige Kennzeichnung auf der Verpackungsvorderseite voraussichtlich rechtsverbindlich umsetzbar ab Herbst 2020 (Nutri-Score), Ziel muss verpflichtende Nährwertkennzeichnung auf EU-Ebene sein

Verbesserung der ernährungsphysiologischen Lebensmittelqualität (Produktreformulierungen)

Derzeit freiwillige Umsetzung im Rahmen der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie in ausgewählten Produktsegmenten. Ziel muss verpflichtende Ausweitung auf das gesamte Angebot sein.

Incentives für Händler

(z. B. Unterbinden von Rabattaktionen auf hochverarbeitete, energiedichte Lebensmittel)

Ernährungsphysiologische Standards für die Außer-Haus-Verpflegung

Integration in die Nationale Reduktions- und Innovationssrategie denkbar

(z. B. für Produkte mit Kinderoptik. Könnte auf der Basis des Nutri-Scores eingeführt werden.)

(z. B. Massenmedienkampagne zum Nutri-Score)

Werbeeinschränkungen im Lebensmittel

Awarenessmaßnahmen/ Erhöhung des öffentlichen Bewusstseins

Verbrauchssteuern/Subventionen für Lebensmittel

z. B. „Gesunde Mehrwertsteuer“, könnte auf der Basis des Nutri-Scores eingeführt werden

Schaffung einer gesunden Nahrungsmittelkette

„Nachhaltigkeit“ auf Gesundheitsaspekte ausweiten. Gesundheitsfolgenabschätzung für Gesetzesvorhaben

Beratungsangebote in medizinischen Versorgung­s­einrichtungen

z. B. Individuelle Ernährungsberatung

Bewegungsfördernde Stadt- und Landschafts­planung

z. B. Ausbau des Radwegenetzes, Vermeidung der Schließung von Sportstätten

Qualitätsgesicherte Bewegungserziehung an Schulen

Vermeidung des Ausfalls von Schulsport, Durchführung durch dafür ausgebildete Lehrer, Bewegungsangebote sollten 1 Stunde Bewegung pro Tag für jeden Schüler ermöglichen.

Werbebeispiele

Gesehen in der „Berliner Zeitung“ von September bis November 2019: Werbung für hochverarbeitete Lebensmittel (zucker-u/o, fett-u/o, salzreich) mit Preisnachlässen von 28 % bis zu 55 % (Beispiel Softdrinks), 37 % bei Süßigkeiten, 41 % für Tiefkühlpizza. Besonders hohe Preisnachlässe gewährt seit Monaten Kaufland.

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Dr. Stefanie Gerlach für die DAG



Publication History

Article published online:
26 February 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York