intensiv 2020; 28(02): 62-63
DOI: 10.1055/a-1088-4966
Kolumne
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Immer mit der Zeit gehen

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Publication Date:
05 March 2020 (online)

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(Quelle: Paavo Blafield/Thieme Gruppe)

„Die Sensationen von heute sind die Langweiler von morgen.“

Ernst Ferstl (*1955), österreichischer Lehrer und Schriftsteller

Jetzt, wo ich hier sitze und die Kolumne schreibe, höre ich gerade die neueste CD von den „Toten Hosen“! Schon als junge Frau fand ich deren Musik einfach super und kannte die Texte aller ihrer Songs. „Die Toten Hosen“ ist eine der wenigen Bands aus meiner Jugend, die heute noch generationsübergreifend gehört und nicht für altmodisch gehalten wird.

Apropos CD. Die oben genannte CD sollte eigentlich ein Weihnachtsgeschenk für meinen Sohn sein, der ja gewissermaßen mit den „Toten Hosen“ groß geworden ist. Aber da komme ich alte Frau ahnungslos mit einer CD um die Ecke. Wusste ich doch nicht, dass mein Sohn die neueste Musik über Spotify für fast kein Geld bezieht und dann über das Handy hört. Mir ist ja nicht einmal aufgefallen, dass es in seiner Wohnung und seinem Auto gar keinen CD-Player mehr gibt. Wieder einmal war ich nicht auf der Höhe der Zeit. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich mich damit anfreunden müssen, dass in der Welt vieler junger Menschen Bücher, im herkömmlichen Sinne, völlig out sind. Nun also auch CDs. Da frage ich mich schon, warum ich die Bücher, Schallplatten und CDs, aber auch unendlich viele Fotos, die unsere Familie begleitet haben, aufhebe. Mein Sohn wird bald nicht mehr wissen, wie ein Plattenspieler und nun offensichtlich auch ein CD-Player aussehen. Was wird er mit den vielen Büchern anstellen? Platz für ein Bücherregal hat er schon mal nicht. Schließlich braucht ein 65-Zoll-Fernseher viel Platz an der Wand.

Aber ich will jetzt nicht den Eindruck erwecken, in der Zeit stehen geblieben zu sein. Obwohl ich zugeben muss, den alten Zeiten oft ein bisschen nachzuhängen.

Dabei haben große Geister schon über das Phänomen „Zeit“ nachgedacht. Jetzt auch noch ich. Es stimmt: Man kann sie nicht aufhalten, nicht verkürzen, nicht umdrehen, nicht beschleunigen, nicht zurückholen. Sie verläuft immer in eine Richtung. Sie ist eine Form unseres Daseins, mit der wir zurechtkommen müssen – ob wir wollen oder nicht. Es sei denn, man versucht sich mit ihr auf der Grundlage der Einstein’schen Relativitätstheorie, der modernen physikalisch-mathematischen Theorie des Raums und der Zeit, anzulegen. Was der normale Mensch – und ich schon gar nicht – nicht tut.

Jeder von uns sollte mit der Zeit gehen und offen für die Entwicklungen der jeweiligen Zeit sein. Denn wo wären wir heute, wenn wir uns jeglicher Neuerungen verschließen würden? Da wäre nichts mit E-Automobilen. Pferdekutschen würden durch die Städte fahren, und damit würde die Umwelt samt unserem Klima noch schneller den Bach runtergehen. Denn was Carl Benz 1886 wahrscheinlich nicht wusste und ihn auch nicht besonders interessiert hat, ist, dass das Pferd an sich die schlechteste Ökobilanz aller Haus- und Nutztiere hat. Es hinterlässt gewissermaßen einen riesigen ökologischen Hufabdruck. Ich habe gelesen, dass die Haltung eines Pferdes jährlich eine ähnlich große Umweltbelastung ist wie eine 21.500 Kilometer lange Autofahrt. Gott sei Dank für mich und meinen Hund stand da auch, dass Hunde deutlich umweltfreundlicher sind. Gut, der Artikel war nicht von Greta Thunberg verfasst, aber für mich und meine Kolumne doch sehr aufschlussreich.

So geht das im Laufe eines Lebens weiter. Was heute noch gut, richtig und der letzte Schrei ist, kann morgen schon unmodern, hausbacken und buchstäblich von gestern sein. Allein was ich im Laufe der letzten 15 Jahre während meiner Arbeit auf einer septischen Station erlebt habe, lernen und umsetzen musste, ist einfach unglaublich. War unser erster Chefarzt noch ein großer Verfechter von Lavanid-Gel und Mesalt-Kompressen, stockt unserem jetzigen leitenden Arzt fast der Atem, wenn wir diese Produkte verwenden wollen. Er steht, im Sinne des modernen Wundmanagements, mehr auf Alginate, Hydrokolloide oder silberhaltige Wundauflagen. Das Angebot und die Möglichkeiten sind groß, wir als Pflegekräfte willig und lernfähig. Aber der Erfolg gibt am Ende beiden recht. Ich habe nicht den Eindruck, vor 15 Jahren weniger Erfolge in der Wundversorgung gehabt zu haben.

Was wir aber ganz bestimmt hatten, ist deutlich weniger Müll. Allein die nicht enden wollenden Umverpackungen der Materialien! Auch dazu habe ich etwas gelesen. Nämlich, dass ein Krankenhausbett durchschnittlich 26 Kilogramm Abfall am Tag produziert – und da sind wir ganz weit vorn.

So geht es quer durch den Alltag. Was gestern noch bejubelt wurde, ist heute kaum noch der Rede wert und wird oft im Rückblick belächelt. Aber es sind auch die Dinge, die uns ausmachen. „Höher, schneller, weiter“ ist ja im Sport die Devise. So ist es eben auch im ganzen Leben. Immer dem Zeitgeist folgen. Nur keinen Stillstand aufkommen lassen. Dabei täte es uns in manchen Situationen vielleicht mal ganz gut, ein bisschen Ruhe einziehen zu lassen.

Jedenfalls möchte ich nicht auf mein Smartphone, meinen Laptop, Kaffeeautomaten, meine Waschmaschine, Mikrowelle und so weiter verzichten. Und jetzt höre ich weiter „Die Toten Hosen“ über meinen antiquierten CD-Player.

In diesem Sinne Ihre

Heidi Günther

hguenther@schoen-kliniken.de