Psychother Psychosom Med Psychol 2020; 70(11): 467-474
DOI: 10.1055/a-1104-5459
Originalarbeit

Wem nützt die App? Internet- und mobilgestützte Interventionen (IMIs) im Spannungsfeld von Autonomie und Patientenwohl

Who Benefits from the App? Internet- and Mobile-Based Interventions (IMIs) and the Tension between Autonomy and Patient Well-Being
Giovanni Rubeis
1   Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Ruprecht Karls Universität Heidelberg
,
Daniel Ketteler
2   Sozialmedizin, MSB Medical School Berlin
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Zusammenfassung

Ziel der Studie Der Einsatz von Internet- und mobilgestützten Interventionen (IMIs) wird als Empowerment von PatientInnen sowie als Verbesserung des Zugangs zu Versorgungsangeboten beschrieben. Die ethischen Risiken für spezifische Patientengruppen werden nur selten diskutiert. Ziel der Studie ist die Verortung der Patientengruppen, die im Spannungsfeld von Autonomie und Patientenwohl vom Einsatz von IMIs möglicherweise nicht profitieren.

Methodik Das Material der ethischen Analyse besteht in Randomisierten Kontrollstudien (RCTs) und Reviews sowie ethischen Zeitschriften- und Buchbeiträgen. Methodischer Orientierungspunkt ist das Spannungsverhältnis zwischen Patientenautonomie und Patientenwohl. Auf dieser Grundlage werden Patientengruppen herausgearbeitet, bei welchen der Einsatz von IMIs nicht zu Empowerment oder verbessertem Zugang zu Versorgungsangeboten führt.

Ergebnisse Die evidenzbasierte ethische Analyse zeigt, dass PatientInnen mit bestimmten Störungsbildern bzw. gesteigerter Symptomschwere, PatientInnen mit niedrigem Bildungsgrad und mangelnder technischer Affinität sowie PatientInnen mit Migrationshintergrund von der Anwendung von IMIs oftmals nicht profitieren. Für diese Patientengruppen kann der Einsatz von IMIs Risiken wie mangelnde Passung auf individuelle Behandlungsbedürfnisse, Symptomverschlechterung, hohe Abbruchrate und mangelnde Erkennung von Notsituationen mit sich bringen.

Diskussion Die starke Betonung des Autonomie-Aspekts kann bei manchen Patientengruppen eine Beeinträchtigung des Patientenwohls mit sich bringen und vorhandene Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem weiter verstärken. Somit können vielfach gerade diejenigen Patientengruppen nicht erreicht werden, deren Inklusion in die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung durch IMIs gefördert werden soll. Diese Zugangsbarrieren sollten zumindest frühzeitig in die Konzeptionierung von IMIs einfließen, um durch eine sicherlich notwendige Digitalisierung des Gesundheitsmarktes ohnehin oft multimorbide Randgruppen in Multiproblemsituationen nicht aus den Augen zu verlieren.

Schlussfolgerung Die Anwendung von IMIs ist stets vor dem Hintergrund der individuellen Ressourcen von PatientInnen zu prüfen. Hinsichtlich einer möglichen verstärkten Implementierung von IMIs im deutschen Versorgungssystem ist daher der Schutz des Patientenwohls jener Gruppen zu gewährleisten, für welche der Einsatz von IMIs Risiken mit sich bringt. Zudem können durch einen frühzeitigen Fokus auf marginalisierte Patientengruppen und die Implementierung niedrigschwelliger Zugänge zum Behandlungs- und Beratungssystem auch Chancen für gerade diese Klientengruppen eröffnet werden.

Abstract

Objective The use of internet- and mobile-based interventions (IMIs) is often considered as empowerment of patients and improvement of accessibility of mental health services. Risks for specific patient groups are seldom discussed. Aim of the study is to identify patient groups that do not benefit from IMIs given the tension between autonomy and patient well-being.

Methods The ethical analysis is based on available empirical evidence (randomized control trials – RCTs, reviews) as well as ethical papers. Methodological background is the tension between patient autonomy and patient well-being, which is crucial to the therapeutic alliance. On this foundation, patient groups are identified that do not benefit from IMIs in terms of empowerment or accessibility.

Results The evidence-based ethical analysis shows that patients with certain disorders or high symptom severity, patients with low level of education or a lack of technical skills, and patients with a migrant background do often not benefit from IMIs. Risks of IMIs are a lack of individualization of interventions given individual treatment needs, symptom deterioration, higher dropout-rate, and insufficient identification of emergency situations.

Discussion Overemphasizing autonomy may compromize patient well-being in certain patient groups. This may lead to a situation where those patient groups whose inclusion into mental health service should be facilitated by IMIs might not be reached. These access barriers should be considered when designing IMIs, so that multimorbid marginalized groups are not forgotten in the necessary digitalization of the health market.

Conclusion The application of IMIs depends on the individual resources of the patient. Should IMIs be further implemented within the German mental healthcare system, it is imperative that the patient well-being of those patient groups that do not benefit from IMIs is guaranteed. In addition, an early focus on marginalized groups may and the implementation of low-level access to counselling and treatment may provide chances for said groups.



Publikationsverlauf

Eingereicht: 01. Oktober 2019

Angenommen: 12. Januar 2020

Artikel online veröffentlicht:
18. Februar 2020

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