Z Sex Forsch 2020; 33(02): 104-105
DOI: 10.1055/a-1161-3565
Bericht

Normativ, empirisch, subjektiv. So viele Jubiläen und nur ein Jahr…

Peer Briken
Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Dies ist offenbar ein bemerkenswertes Jahr, in dem vieles zusammenfällt. Symbol einer Zeitenwende? Wird man in 100 Jahren so über die 20er-Jahre sprechen wie wir heute über die Goldenen Zwanziger des zwanzigsten Jahrhunderts? Wohl kaum. Beginn einer Dystopie? Die Auguren sind angesichts der viralen Macht sprachlos. Nur eines scheint noch sicher: Keiner weiß mehr, wo es langgehen wird. Noch wird der Untergang nicht beschworen. Noch stehen Deutsche auf ihren Balkonen, klatschen in die Hände, machen sich Mut oder vertreiben böse Geister.

Vor 100 Jahren, am 26. Juni 1920, wurde Hans Giese geboren. Im Alter von 50 Jahren, 1970, vor 50 Jahren starb er. 1950, vor 70 Jahren, gründete Hans Giese die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS). Und: Volkmar Sigusch, der wohl sprachmächtigste deutsche Sexualwissenschaftler wird in diesem Jahr 80 Jahre alt – Numerorum mysteria. Auf diese drei runden Jubiläen will hier ich hinweisen. Daher schreiben die Erste Vorsitzende der DGfS, Katinka Schweizer, und Kolleg_innen in diesem Heft zum Jubiläum der Fachgesellschaft ([Schweizer et al. 2020], in diesem Heft), Volkmar Sigusch äußert sich über Hans Giese ([Sigusch 2020], in diesem Heft), und ich möchte zunächst kurz auf die in meinen Augen bleibende Wirkung von Hans Giese eingehen, vor allem aber Volkmar Sigusch beglückwünschen.

Hans Giese stammte aus einer angesehenen Frankfurter Familie, war homosexuell und musste wohl aus diesem Grund während der Schulzeit mindestens einmal das Gymnasium wechseln. Seit 1941 war er Mitglied der NSDAP. Er studierte nach dem Abitur Germanistik und später Medizin, u. a. in Freiburg, wo er Heidegger hörte. Er promovierte zunächst in Germanistik über das Polaritätsprinzip bei Goethe, das sich z. B. in Gegensätzen zwischen männlich und weiblich oder Natur und Geist manifestiert. Gieses Homosexualitäts- und Perversionskonzepte arbeiteten in der Folge immer wieder nach diesem normativ angelegten Polaritätsprinzip.

Worin besteht bis heute seine Bedeutung neben der Gründung der Fachgesellschaft DGfS? In dem sexualitätsfeindlichen, repressiven und Angst schürenden Klima der 1950er-Jahre äußerte sich Giese in einer durchgängig erkennbaren Figur: In Bezug auf strittige Themen (Homosexualität, Perversion, Pornografie, sexuelle Hilfsmittel) betrieb er eindeutig den Versuch der Entpathologisierung, allerdings um den Preis der gleichzeitigen Schaffung möglichst klar abgrenzbarer Pathologien – so blieb er dem Polaritätsprinzip treu. Gleichzeitig versteckte er sich offensichtlich hinter einer heideggerschen und nicht für jedermann ohne weiteres verständlichen Sprache. 1959 gab ihm sein langjähriger Mentor Hans Bürger-Prinz die Möglichkeit, in Hamburg zu habilitieren, und 1965 wurde er Professor am Hamburger Universitätsklinikum. Gieses Verleugnung der nationalsozialistischen Vergangenheit – seiner eigenen und der seiner frühen Netzwerkpartner, mit denen er in der DGfS die deutsche Sexualwissenschaft aufbaute – war eindeutig und zeittypisch. Er sprach nicht davon und keiner fragte nach.

Im Jahr 1962 wurden noch mehr als 3 000 Männer gemäß des § 175 verurteilt, der gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Schon am Vorabend der sogenannten sexuellen Revolution veränderte sich allerdings das Klima in Deutschland. Eine bedeutsame Rolle spielten dabei Giese und der Rechtswissenschaftler Herbert Jäger, der seit seiner Promotion im Jahr 1957 ein säkularisiertes Strafrecht abseits religiös normativ geprägter Werte vertrat und mit Giese in enger Verbindung stand. Nach Jägers Auffassung sollten sich die empirischen Wissenschaften in rechtspolitischen Kategorien niederschlagen. Angesichts der nationalsozialistischen Verstrickungen von Bürger-Prinz und Giese ist es bemerkenswert, wie diese beiden Psychiater 1963 mit dem im Auschwitzprozess anklagenden Staatsanwalt Fritz Bauer und mit Herbert Jäger gemeinsam ein Buch zur Strafrechtsreform publizierten ([Bauer et al. 1963]). Das Interesse an einer Abschaffung des § 175, das Hans Giese von Beginn seiner Tätigkeiten an verfolgt hatte, dürfte die vier miteinander verbunden haben. Am 25. Juni 1969 wurde das „Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts“ verabschiedet und damit der § 175 zum ersten Mal seit 34 Jahren geändert. Maßgeblichen Anteil hieran hatte der sozialdemokratische Justizminister und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann. Im November 1967 hatte unter Heinemanns Schirmherrschaft und aus Anlass des 70. Geburtstages von Bürger-Prinz in der damaligen Hauptstadt Bonn eine Tagung der DGfS zur Strafrechtsreform stattgefunden. Mit der folgenden Strafrechtsreform im Jahr 1969 wurde dem § 175 die erste, aber auch die substanziellste Scheibe abgeschnitten. Die Anzahl der Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen hatte in dieser Zeit bereits deutlich abgenommen.

Im Juli 1970 stürzte Giese in Südfrankreich von einer Klippe. Der Spiegel schrieb am 3. August 1970 zu seinem Tod:

„Er lebte und starb jenseits der Norm. In seinem eigenen Sexualleben wie als Sexualforscher zählte er zu den Außenseitern, die eher unterdrückt als anerkannt werden. Giese wirkte mit, der Minderheit der Homosexuellen zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Umgang erwachsener Männer miteinander steht nicht mehr unter Strafe. Der Sexualwissenschaft erkämpfte er mehr Anerkennung, als noch vor zwei Jahrzehnten denkbar schien“ ([Der Spiegel 1970]: 49).

Fragt man die beiden ersten Mitarbeiter von Hans Giese, Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch, nach seiner Bedeutung für sie, entgegnen beide: „Er hat uns vor allem machen lassen.“ Das klingt nach sicherem Freiraum für die empirische Wende der Sexualwissenschaft.

Volkmar Sigusch, am 11. Juni 1940 in Bad Freienwalde/Oder geboren, floh kurz vor dem Bau der Mauer in Berlin als Student der Humboldt-Universität nach Westberlin. Im Westen studierte er Medizin, Psychologie und Philosophie in Frankfurt am Main und Hamburg. In Hamburg promovierte er bei Hans Giese 1966 zum Dr. med. und habilitierte sich 1972 für das Fach Sexualwissenschaft.

Kurz darauf wurde Volkmar Sigusch auf den neugegründeten Lehrstuhl für Sexualwissenschaft im Klinikum der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main berufen, wo er von 1973 bis 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft war. Er war es, der das Fach Sexualmedizin, das der Deutsche Ärztetag jüngst endlich als Zusatzweiterbildung für Ärzt_innen eingeführt hat, empirisch, klinisch und theoretisch begründete. Von 1978 bis 1982 und von 1997 bis 2000 war er Erster Vorsitzender der DGfS. Über 40 Jahre lang gab er die Monografienreihe „Beiträge zur Sexualforschung“ heraus.

1988 gründete er gemeinsam mit Martin Dannecker, Friedemann Pfäfflin, Gunter Schmidt und Eberhard Schorsch die erste deutschsprachige peer-reviewte „Zeitschrift für Sexualforschung“ mit dem hier erschienenen Aufsatz „Was heißt kritische Sexualwissenschaft?“ ([Sigusch 1988]). Damit legte er die Basis für eine Tradition der kritischen Sexualwissenschaft, die anders als die affirmative vom Widerspruch her denkt und das Subjekt in den Mittelpunkt stellt – Differentia sexualis specifica. Sigusch veröffentlichte mehr als 700 wissenschaftlichen Arbeiten, darunter mehr als 40 medizinische, soziologische und philosophische Bücher. Lange Zeit konzentrierte er sich auf die Geschichte der Sexualwissenschaft, insbesondere auf die Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Sexualforscher durch die Nazis. Zu seinem 75. Geburtstag ([Briken und Dekker 2015]) nannten wir ihn einen wissenschaftlichen Poeten wegen seiner Wortschöpfungen, z, B. cisgender und zissexuell und Neosexualitäten.

Ich habe mich in meiner eigenen Arbeit durch Volkmar Sigusch in vielfältiger Weise – auch durch seinen Widerspruch – inspiriert und herausgefordert gefühlt. Im Jahr 2007 hörte ich ihn zum Thema Neosexualitäten bei einem seiner letzten öffentlichen Vorträge bei der Tagung der DGfS in Regensburg – ich selbst sprach zum Thema Paraphilien. Im Anschluss an meinen Vortrag stellte er mir die Frage, ob wir denn nicht besser alle Paraphilien außer der Pädophilie aus den diagnostischen Leitfäden verbannen sollten. Er hat damit in gewisser Weise auf den Prozess der Entfernung des Fetischismus, des transvestitischen Fetischismus und des Masochismus aus der ICD, an dem ich jüngst für die ICD-11 beteiligt war ([Briken 2020]), Einfluss genommen. Die wiederkehrenden freundschaftlichen Besuche bei ihm zu Hause gehören zu den kurzweiligsten, historisch lehrreichsten und intellektuell tiefsinnigsten Erlebnissen, die meinen Blick auf sexuell gestörte Patient_innen und auf die Geschichte der Sexualwissenschaft stark geprägt haben. Zuletzt war er auch in sehr persönlichen Fragen immer wieder ein einfühlsamer Berater, dem ich höchstes Vertrauen entgegenbringen konnte.

Was mag uns dieser Volkmar Sigusch in Zeiten von Corona zurufen: Verschanzt euch nicht. Helft den Diskriminierten, den Leidenden und vor allem auch den Geflüchteten – deren Wohl lag ihm immer besonders am Herzen! Versteckt euch nicht hinter dem Objektiv, dem scheinbar Natürlichen, nur um Ordnung, Ruhe und Sicherheit zu garantieren. Widersprecht der Dystopie.

Und ich, anstatt zu klatschen, verneige mich vor 80 Jahren diszipliniertem, ungehorsamem Widerspruch, danke und denke: Weiter so, Herr Sigusch! Alles Gute zum Geburtstag, lieber Volkmar.



Publication History

Article published online:
15 June 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York

 
  • Bauer F, Bürger-Prinz H, Giese H. et al., Hrsg. Sexualität und Verbrechen – Beiträge zur Strafrechtsreform. Frankfurt/M.: Fischer; 1963
  • Briken P, Dekker A. Dem Erfinder Volkmar Sigusch zum Geburtstag. Z Sexualforsch 2015; 28: 295-296
  • Briken P. Konsens als Merkmal paraphiler Störungen. Psyche – Z Psychoanal 2020; 74: 280-293
  • Der Spiegel. Hans Giese †. In: Der Spiegel 32 1970; 49
  • Schweizer K, Güldenring A, Rustige L. et al. Zum Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung 2020 – 70 Jahre interdisziplinäre Sexualforschung in Deutschland. Z Sexualforsch 2020; 33: 106-107
  • Sigusch V. Was heißt kritische Sexualwissenschaft?. Z Sexualforsch 1988; 1: 1-29
  • Sigusch V. Hans Giese und seine Theorie der Homosexualität. Z Sexualforsch 2020; 33: 88-92