Nervenheilkunde 2021; 40(01/02): 6-12
DOI: 10.1055/a-1246-0345
Editorial

Psychiatrie im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts

Manfred Spitzer

Wenn dieses Editorial erscheint, befinden wir uns im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Was bedeutet das für unser Fach? Welche Entwicklungen zeichnen sich ab? Leider habe ich keine Glaskugel zur Hand, und selbst wenn ich eine hätte, so verfüge ich dennoch über keinerlei hellseherischen Fähigkeiten. Aber es gibt viele neue Erkenntnisse, Entwicklungen und gewisse Trends schon jetzt, die man auf die Psychiatrie extrapolieren[ 1 ] kann: Molekularbiologie, Gentechnik, Epigenetik, Mikrobiom, Data-Science, der Wandel von Demografie und Klima, die Verstädterung oder die ubiquitäre Verbreitung von Internet und digitalen Endgeräten. All das wird nicht nur ganz sicher die Oberflächengestalt psychopathologischer Erscheinungen verändern (in dem Sinne, wie der hypochondrische Wahn Depressiver früher die Lues, dann TBC, dann HIV und demnächst wahrscheinlich Corona zum Inhalt hat oder im Sinne von Phantomvibration, Fomo und Cyberchondrie), sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit tiefer gehen: So wie der Abstammungswahn mit dem Adel (und etwa 100-jähriger Verspätung) verschwand, könnten bestimmte Formen der Psychopathologie ab- oder zunehmen: Dass der demografische Wandel mehr demenzielle Syndrome mit sich bringen wird, ist trivial; dass der Klimawandel mehr Ängste und Gefühle der Hilflosigkeit (und damit auch mehr Depression) zur Folge haben wird, ist schon nicht mehr ganz so trivial. Und dass manche klinische Einschätzung irgendwann auch in der Psychiatrie durch Data-Science ersetzt wird, oder Psychotherapie durch ein Klistier, ist zumindest nicht mehr prinzipiell undenkbar. Betrachten wir ein paar Beispiele – in leider noch ungeordneter Reihenfolge im Hinblick auf Inhalt und Wahrscheinlichkeit des Eintretens.[ 2 ]



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
04. Februar 2021

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