Allgemeine Homöopathische Zeitung 2020; 265(06): 29-30
DOI: 10.1055/a-1272-6233
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Buchbesprechungen

Medizin, Gesellschaft und Geschichte

Robert Jütte, Hrsg. Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Band 37. Stuttgart: Franz Steiner; 2019. 207 S., brosch., ISBN 978-351512417-1, Preis: 48,20 €

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Im 37. Band des Jahrbuchs MedGG, das seit 1985 erscheint, wird die traditionelle Einteilung in zwei Bereiche fortgeführt: Im ersten Teil zur Sozialgeschichte der Medizin finden sich vier lesenswerte Aufsätze zu den Themen Kriegskrankenpflege und Gesundheitsmaßnahmen bei Vertriebenen im Zweiten Weltkrieg, Arzneimittelregulierung in der BRD und zur beruflichen Rehabilitation in der DDR.

Der zweite Teil zur Geschichte der Homöopathie, der drei Aufsätze enthält, soll Thema der vorliegenden Rezension sein:

1. Robert Jütte: Early examples of the healing power of imagination: The prehistory of the placebo

Robert Jütte, der seit längerer Zeit zum Thema Placebo forscht und u. a. den Band Placebo in der Medizin für die Bundesärztekammer mit herausgegeben hat (vgl. ausführliche Besprechung in der ZKH 3 / 2011), widmet sich in diesem Aufsatz der Vorgeschichte des Placebos.

Aus dem 14. Jahrhundert stammt die Redeweise „to sing a placebo“: Damit war sinngemäß gemeint, „einer hochgestellten Persönlichkeit zu schmeicheln“. Erst 1772 wurde der Begriff „Placebo“ durch den englischen Arzt Alexander Sutherland in den medizinischen Sprachgebrauch eingeführt. Einige Jahre später beschrieb William Cullen – kein Unbekannter in der Homöopathiegeschichte – erstmals die Anwendung eines Placebos bei einem Patienten: Diesem hatte er die äußerliche Anwendung von Senfpulver empfohlen, ohne selbst von einer spezifischen Wirkung desselben überzeugt gewesen zu sein.

Samuel Hahnemann, der Cullens Materia Medica ins Deutsche übersetzt hatte, übernahm das Prinzip der Placebogaben relativ bald für die homöopathische Therapie und sprach von „unarzneilichen Gaben“. Für einige Zeitabschnitte der Hahnemann‘schen Praxis sind konkrete Verordnungen detailliert bekannt: So hatte Hahnemann beispielsweise im Jahre 1821 (vgl. Krankenjournal Nr. 22) bei bis zu 85 % (!) der Verordnungen Placebo verabreicht. Andere Autoren sprachen auch von „Scheinarzneien“, beispielsweise im Archiv für die homöopathische Heilkunst 1823.

Jütte beschreibt in seinem Beitrag zahlreiche weitere Beispiele der Verwendung von Placebos in der Medizin. Im British Medical Journal hat er für die Jahre 1840 – 1899 insgesamt 71 Fundstellen ausgemacht. Die erstmalige Verwendung des Begriffs in der deutschsprachigen medizinischen Literatur weist Jütte für das Jahr 1877 nach: Der New Yorker Arzt Alexander Berghaus erläuterte die Anwendung von Placebos anhand von Kasuistiken – und zwar in der vorliegenden Zeitschrift, nämlich im 94. Band der AHZ, S. 52 – 54!

Fazit: Ein sehr lesenswerter Beitrag zur Frühgeschichte des Placebos, der eine Lücke in der medizinhistorischen Forschung schließt.


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2. Daniel Walther: Gustav Jaeger und die Homöopathie

Der Naturwissenschaftler und Mediziner Gustav Jaeger (1832 – 1917) war eine schillernde Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts und wird bereits bei Rudolf Tischner (Geschichte der Homöopathie, 1939) auf einigen Seiten erwähnt. Nun liegt endlich eine ausführliche medizinhistorische Untersuchung zum Verhältnis Jaegers und der Homöopathie vor, das als durchaus ambivalent gelten kann.

Bevor Walther konkret auf diese Verbindung Jaegers zu sprechen kommt, werden zunächst weitere Facetten seiner illustren Karriere erwähnt: Jaeger empfahl Kleidung aus reiner tierischer Wolle, um die Ausscheidung von Krankheitsstoffen anzuregen und zur Abhärtung des Körpers beizutragen. Dieses sogenannte „Wollsystem“ (man sprach auch vom „Woll-Jaeger“) wurde weltweit bekannt und beispielsweise von Cary Grant, George Bernard Shaw und Oscar Wilde propagiert. Später erhielt Jaeger einen Lehrstuhl für Zoologie an der Universität Hohenheim und machte sich als Naturforscher einen Namen. Weitere Begriffe aus Jaegers Forschertätigkeit sind die sogenannte „Seelentheorie“ und die „Neuralanalyse“, die im Kontakt mit den Homöopathen eine wichtige Rolle spielten.

Hauptsächlich anhand homöopathischer Zeitschriften (ausgewertet wurden vor allem die Jahrgänge 1879 – 1917) wird die Verbindung Jaegers zur Homöopathie nachgezeichnet: So kam beispielsweise der damalige Sekretär der Hahnemannia, August Zöppritz, mit Jaeger in Kontakt und bat darum, die Wirkung homöopathischer Mittel anhand der „Neuralanalyse“ zu überprüfen. Jaeger versuchte dann, mithilfe eines sogenannten Chronoskops und der Anfertigung von „Osmogrammen“ (Riechkurven) spezifische Effekte homöopathischer Hochpotenzen nachzuweisen, was ihm nach eigener Aussage bis zur 2000. Potenz gelungen war.

Aufgrund dieser Forschungsergebnisse wurde die Homöopathie in einer homöopathischen Zeitschrift sogar als „universitätsfähig“ bezeichnet. Die Hoffnung, die Homöopathie an die Universitäten zu tragen, zerschlug sich allerdings wieder. Jaeger schien eine streitbare Persönlichkeit gewesen zu sein, oft zu polarisieren und dann auch die Homöopathenschaft bald wieder zu verschrecken, als er ein Experiment mit „Anthropin-Pillen“ vorstellte: Die Pillen waren aus potenzierten Haaren „einer älteren Dame und von sechs jungen Mädchen“ hergestellt und sollten in Wein gelöst werden. Laut Jaeger sollte diese „Humanisierung“ des Weins denselben „gehalt- und geschmackvoller“ machen. Dieser Versuch und das weitere Gebaren Jaegers war dann offenbar zu viel des Guten, die Homöopathen grenzten sich letztlich wieder von ihm ab.

Fazit: Ein hervorragend und höchst lesenswerter Beitrag, der insbesondere auch den damaligen Umgang mit (vermeintlichen) wissenschaftlichen Fortschritten und die zeitgenössische Wissenschaftskritik widerspiegelt.


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3. Andreas Weigl: Ernährungsvorschriften in deutschen homöopathischen Schriften (ca. 1820 – 1960)

Der letzte Aufsatz in der MedGG 37 behandelt zunächst Ernährungsvorschriften in verschiedenen medizinischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, geht in der 2. Hälfte dann relativ knapp auf die Homöopathie ein. Obwohl die Bibliografie vier Druckseiten umfasst, wird für das 20. Jahrhundert – immerhin steht im Titel des Aufsatzes „1820 – 1960“ – lediglich eine einzige Quelle herangezogen, nämlich eine Publikation eines gewissen Reinhard Steintel (1891 – 1967) aus dem Jahre 1955. Steintel, den Weigl als Homöopathen bezeichnet, schrieb einen Patientenratgeber mit dem Titel „Das Natürliche Ernährungs-Gesetz“. Hiermit ist die Recherche für das 20. Jahrhundert aber vermutlich nicht ausgereizt.

Fazit: Wer die bisherigen Arbeiten zum Thema Homöopathie und Diätetik zur Kenntnis genommen hat (beispielsweise die hervorragende Arbeit von Jens Busche: Ein homöopathisches Patientennetzwerk), wird hier nicht viel Neues in Bezug auf die Homöopathie finden.

Christian Lucae


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Article published online:
23 November 2020

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