Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89(10): 496-506
DOI: 10.1055/a-1389-5782
Übersicht

Prädiktoren des Entlassmodus aus forensischer Suchtbehandlung – Erster Teil einer Übersichtsarbeit zu Erfolgsdeterminanten einer Unterbringung gemäß § 64 StGB

Predictors of the discharge mode from forensic addiction treatment: Review of the determinants of success of a treatment order according to sec. 64 of the German Criminal Code (Part I)
1   LWL-Akademie für Forensische Psychiatrie (AFoPs), Fachbereich Versorgungsforschung
2   Universität Konstanz, Fachbereich Psychologie
,
Alexander Baur
3   Universität Hamburg, Fakultät für Rechtswissenschaft
› Institutsangaben

Zusammenfassung

Hintergrund Ehe eine forensische Suchtbehandlung gemäß § 64 StGB gerichtlich angeordnet werden kann, ist eine Erfolgsprognose zu stellen und zu bejahen. Der Suche nach entsprechenden Prädiktoren für eine „hinreichend konkrete“ Erfolgsaussicht widmeten sich in den vergangenen Jahren einige Studien. Neben der Legalbewährung stellt der Entlassmodus aus der Maßregel, d.h. ob eine reguläre Entlassung auf Bewährung oder eine Erledigung der Unterbringung wegen Aussichtslosigkeit erfolgt, das zentrale Erfolgskriterium forensischer Suchtbehandlung dar.

Zielsetzung Als erster Teil einer zweiteiligen Gesamtschau zu Erfolgsdeterminanten forensischer Suchtbehandlung soll die vorliegende Arbeit einen Überblick über die aktuelle Befundlage zu Prädiktoren des Entlassmodus geben, sowohl bei univariater Betrachtung als auch bei multivariater.

Methodik Basierend auf systematischer Literaturrecherche werden dabei die Ergebnisse von 16 empirischen Studien aus dem Zeitraum 1999–2019 vertieft aufbereitet und zusammengefasst. Univariate Befunde zu einzelnen Prädiktoren werden in einer Überblickstabelle dargestellt, multivariate Ergebnisse etwa zu „typischen“ Behandlungsabbrechern zusammengefasst.

Ergebnisse Auf univariater Ebene ergeben sich überwiegend heterogene Befunde, als einigermaßen sichere Prädiktoren können die Faktoren Persönlichkeitsstörung und psychopathy sowie „statische“ anamnestische Faktoren wie die kriminelle Vorbelastung gelten. Multivariat weist insbesondere die Kombination aus frühem Delinquenzbeginn, problematischem sozialen und/oder beruflichen Hintergrund bzw. Bildungshintergrund, einhergehend mit bestimmten Persönlichkeitskomponenten, ein sehr hohes Risiko für eine vorzeitige Beendigung der Unterbringung auf.

Schlussfolgerung Der aktuelle Forschungsstand kann keine erschöpfende Antwort auf die Frage nach entscheidenden Determinanten von Erfolg oder Misserfolg von Behandlungen in Entziehungsanstalten – gemessen am Entlassmodus – geben. Die Übersicht kann forensisch-psychiatrische Sachverständige aber bei der Stellung einer reliablen Prognose der Behandlungsaussicht unterstützen.

Abstract

Background Before a forensic addiction treatment can be ordered by court according to sec. 64 of the German Criminal Code (StGB), a success prognosis must be made and affirmed. The search for appropriate predictors for a “sufficiently concrete prospect of success” was the focus of several studies in recent years. In addition to legal probation, the mode of release from the measure, i.e. whether regular release on probation or an end of the accommodation due to a lack of prospect of success, represents the central success criterion of forensic addiction treatment.

Objectives As the first part of a two-part overview of the determinants of success in forensic addiction treatment, the aim of this paper was to provide an overview of the current state of knowledge on predictors of the discharge mode, both univariate and multivariate.

Methodology Based on a systematic literature search, the results of 16 empirical studies from the period 1999 to 2019 are summarized and presented in detail. Univariate findings on individual predictors are presented in an overview table, while multivariate results are summarized in “typical” treatment discontinuations.

Results On a univariate level, the findings were predominantly heterogeneous. The factors personality disorder and psychopathy as well as “static” anamnestic factors such as criminal background could be considered as reasonably reliable predictors. Multivariate, in particular the combination of an early onset of delinquency, a problematic social and/or occupational or educational background together with certain personality components, indicated a very high risk of premature discharge.

Conclusion The current state of research cannot provide an exhaustive answer to the question of decisive determinants of success or failure of a treatment acc. to sec. 64 StGB – measured by the discharge mode. However, the overview can assist forensic psychiatric experts in making a reliable prognosis of treatment prospects.



Publikationsverlauf

Eingereicht: 10. Dezember 2020

Angenommen: 06. Februar 2021

Artikel online veröffentlicht:
10. März 2021

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