Zeitschrift für Palliativmedizin 2022; 23(01): 23-27
DOI: 10.1055/a-1688-8188
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Doppelkopf: Annette Henry und Dietmar Weixler

Annette Henry

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Wie kamen Sie in Ihr jetziges Tätigkeitsfeld?

Zu meiner Mitarbeit im Kinderhospiz und Kinderpalliativteam MOMO wurde ich freundlicherweise von meiner jetzigen „Chefin“, Fr. Dr. Martina Kronberger-Vollnhofer vor 8 Jahren eingeladen. Ich weiß noch genau, bei welcher Wanderung im Sommer 2013 mein Mobiltelefon läutete und sie mich fragte, ob ich in dem seit einigen Monaten aktiv wachsenden Team ärztlich unterstützen möchte. Ich hatte davor über 10 Jahre an der Palliativstation CS Hospiz Rennweg als Ärztin mit erwachsenen Patient*innen und ihren Angehörigen gearbeitet und gerade eine berufliche Pause eingelegt. Dr. Kronberger-Vollnhofer kannte ich von einem Palliative-Care-Lehrgang bereits gut. Die Einladung war eine Ehre und eine Herausforderung. Meine erste Zusage lautete: „Bis du eine Palliativ-Kinderärztin gefunden hast, will ich es versuchen …“Nun ist das Team groß geworden, umfasst viele Professionen und auch einige Kinderärzt*innen, und es ist mir eine Freude, weiterhin „an Bord“ zu sein. Palliative Care für Kinder und Jugendliche bedeutet manchmal Sterbebegleitung und immer Lebensbegleitung! Das Spektrum an Erkrankungen ist vielfältig. Jede Familie hat ihre ganz eigene Geschichte, und wir dürfen sie zu Hause, in ihrem eigenen Umfeld, unterstützen – immer in Kooperation mit der jeweils der Grunderkrankung entsprechenden Spezialabteilung.

Was wäre für Sie die berufliche Alternative?

Ich bin ein Jahrgang 1966. Ich glaube, dass wir „Baby-Boomer“ uns in unserer Pensions-Lebenszeit gut um unsere Gleichaltrigen und älteren Mitmenschen werden kümmern müssen. „Sorge-Kultur“ würde es Prof. Andreas Heller nennen. Dafür würde ich gerne mehr praktisches Wissen in der Geriatrie und sinnvollen Umgang mit internistischer Medikation im Alter erlernen. Schon jetzt trudeln aus Verwandtschaft und Bekanntenkreis Anfragen zu Beratung und „second opinion“ ein. Also wäre die Alternative: zurück ins Spital als Stationsärztin auf eine Akutgeriatrie.Eine berufliche Alternative verwirkliche ich mir allerdings seit 15 Jahren bereits: Freiberufliche Lehrtätigkeiten im Kontext von Palliative Care. Hier genieße ich es, in Kontakt mit interessierten Menschen ganz unterschiedlicher Berufsgruppen zu sein – in einem Thema, das mir Herzensanliegen geworden ist.

Wie beginnen Sie ihren Tag?

Da bin ich relativ pragmatisch: 30 min Hausarbeit. „Aufräumen“, um richtig munter zu werden; Hygiene, erster Kaffee, und mit einem freundlichen Stoßgebet: „Danke für dein mit mir sein, guter Gott“, hinaus in den Arbeitsalltag.

Leben bedeutet für mich:

Zuallererst ein großes Geschenk … vielfältig, wie die Farben des Regenbogens.Durch einen Wald zu wandern in all seinen Grünschattierungen; auf einem Gipfel den Blick in die Bergwelt schweifen zu lassen; einen erfrischenden klaren See zu durchschwimmen; mein Kind in den Armen zu halten und seinen Duft einzuatmen; … geschenkte Lebendigkeit mit all meinen Sinnen.Aus dem Geschenk heraus erlebe ich den Auftrag, oder die Einladung, auch der Welt etwas von mir zu geben. Martin Bubers: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, fasst diese Hoffnung für mich gut zusammen, die sich an vielen Tagen verwirklichen darf.Leben bedeutet für mich aber auch, in einem Suchprozess zu sein, ringend um die Balance zwischen WIRKEN und SEIN, … ausgesetzt Phasen existenzieller Verunsicherung … fragend „Kann ich sie noch hören, meine Lebensmelodie?“

Sterben bedeutet für mich:

Zuallererst ein großes Geheimnis.„Hält das Leben nach dem Tod eine gute Zukunft für mich bereit?“, so formuliert es Pater Klaus Schweiggl SJ.Es ist in jedem Fall ein endgültiger Abschied von dieser Welt, manchmal verbunden mit allen Dimensionen des Schmerzes und der Angst. Ihn zu gestalten, ist uns das ein Anliegen? Sehr großen Respekt habe ich vor Menschen, die in all ihrer weit fortgeschrittenen Erkrankung und Schwäche dennoch spürbar „sie selbst“ sind. Eines Tages, ohne deutliche Zustandsveränderung sagen sie: „Heute sterbe ich, Fr Doktor …“, und dann versterben sie tatsächlich in den nächsten Stunden oder wenigen Tagen. Wie vermögen sie das?Sehr betroffen bin ich von Berichten und Erfahrungen, wenn Menschen ganz plötzlich aus dem Leben gerissen werden – AKUT – ohne Vorwarnung. Was erlebt man in diesem „Wurf aus dem Sein“? Gibt es da dennoch die Chance, seine Liebsten zu segnen?

Welches Ziel möchten Sie unbedingt noch erreichen?

Ich möchte sehr gerne die Würdezentrierte Therapie nach Harvey M. Chochinov erlernen und die Fähigkeit entwickeln, Menschen mit dieser Kurzintervention am Lebensende unterstützend zu begleiten.

Meine bisher wichtigste Lernerfahrung im Leben ist …

Mutter von drei Kindern zu sein. Lebenslange Freude und lebenslange Lernchance.Im Kontext von Palliative Care ist meine wichtigste Lernerfahrung, immer wieder der Machtlosigkeit zu begegnen, der Ohnmacht … bei den Menschen, die wir betreuen, und bei mir selbst. Die so berührenden Worte von Sheila Cassidy haben mir da eine neue Ebene eröffnet: „Es gilt die Machtlosigkeit auszuhalten, nicht davonzulaufen, … die Menschen wissen, dass wir nicht Gott sind, was sie von uns erwarten, ist, dass wir sie nicht im Stich lassen, dass wir unsere Stellung am Fuße des Kreuzes halten. In diesem Stadium der Reise da zu sein, einfach zu sein: Das ist in vieler Hinsicht das Schwerste“ Sheila Cassidy, Die Dunkelheit teilen, Freiburg 1995Ja, einfach zu SEIN.Manchmal dürfen wir versuchen, von der Ohnmacht in die Gestaltung zu kommen, tastend … eine „Teilmächtigkeit“ (Ruth Cohen) anstrebend … zumindest im Fragment.

Was würden Sie gerne noch lernen?

Zwei ganz unterschiedliche Dinge: a) Seit meiner Kindheit habe ich das innere Bild, dass Harmonie erstrebenswert und Konflikte bedrohlich sind. Ich möchte lernen, es mit freiem Herzen zu wagen, wenn notwendig, in Konflikt zu gehen, und den Konflikt dann konstruktiv auszutragen. b) „Tänze aus aller Welt“ – Gruppentänze, Paartänze – Freudentänze.

Woraus schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?

Mein Ehemann und unsere drei Töchter sind das Wichtigste für mich auf dieser Welt.Ich liebe meine vier Generationen umfassende Großfamilie, so ungefähr 20 Menschen voller Lebendigkeit und Vielfalt, Spaß und Spiel bei jedem Fest. Du bist angenommen, so wie du bist.Ich schöpfe Kraft aus meiner Gottesbeziehung mit all ihren Fragen und Hoffnungen.Ich bewege mich in der Natur, wann immer es mir möglich ist – laufend, radfahrend, wandernd – in Gemeinschaft oder alleine. In der warmen Jahreszeit dieses Jahres 2021 durfte ich einige Monate „Auszeit – Sabbatical“ nehmen. Diese Freiheit VON beruflicher Verantwortung und Rufbereitschaft, und Freiheit FÜR viele, viele neue Bergwanderungen und Radtouren haben meine Quellen gut gefüllt. Für diese „Annette-Zeit“ – nach 25 Jahren dichter Lebenszeit als working mom, bin ich sehr dankbar.Eine andere wichtige Kraftquelle für meine Arbeit ist das Team. Ich habe das große Glück, dass es in unserem Kinderhospiz und Kinderpalliativteam MOMO nur so wimmelt von besonderen Menschen voller Warmherzigkeit und Klugheit.Und meine Bewunderung gilt all den Eltern, die mit großer Zuwendung und Engagement ihr schwer erkranktes Kind (oder Kinder) pflegen und sich immer wieder um gute und leichte Stunden im Familienalltag bemühen.

Mit wem aus der Welt- oder Medizingeschichte würden Sie gerne einen Abend verbringen?

Carl Rogers. Would be great, to go out for dinner and talk with this ingenious man. I guess he would listen.Es wäre aber auch sehr fein, wieder einmal einen Abend mit Dr. Weixler über den Mönchsberg in Salzburg zu spazieren, über die beleuchtete Stadt zu schauen und in Ruhe über seine neuen Erfahrungen als OPG-Präsident zu plaudern.

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre …

… und auch körperlos … Dann würde ich gerne auf einer erfahrenen COVID-Intensivstation, still und ohne zu stören, von den Pflegenden und Ärzt*innen lernen, wie sie Menschen in dieser Erkrankungssituation behandeln. Ihnen gilt mein großer Respekt.

Wie können Sie Dr. Weixler beschreiben?

Frei heraus gesagt, ich bin ein großer Fan von Dr. Weixler. DietmarSr. Hildegard Teuschl CS, eine der großen Pionierinnen der Hospizbewegung in Österreich, hat uns beide im Jahr 2004 zur Mitwirkung bei ihrem großen Projekt, der Entwicklung eines interprofessionellen Universitätslehrgangs für Palliative Care, eingeladen. Wir sind sicherlich ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, doch das Miteinander in der Leitung des einjährigen Moduls für Ärzt*innen, hat immer viel Freude gemacht und ist uns, so hoffe ich liebe Hildegard, auch gut gelungen.Ich verdanke Dietmar z. B. die Frage: „Was wäre für Sie wichtig, wenn Ihre Lebenszeit begrenzt wäre?“ Vor meinem geistigen Auge sehe ich ihn bei einem Hausbesuch im Waldviertel neben einer gastfreundschaftlichen Schale Kaffee sitzen, wie er einer Patient*in diese Frage stellt: in großer Offenheit und mit Interesse an dem Menschen vor ihm, bereit, den Suchprozess zu begleiten, den seine Frage vielleicht ausgelöst hat.Er strahlt dabei die Sicherheit des erfahrenen Arztes aus, der um Schmerz- und Symptomlinderung weiß, der anbietet – mit seinem Team gemeinsam – in kritischen Stunden DA zu SEIN, der offene Fragen und Ungelöstes AUSHALTEN kann, weil auch er um die Tiefe seiner Lebensfragen weiß.Ich erlebe Dietmar – und ich hoffe, ich werde wohlwollend verstanden – als einen ausgesprochen „anspruchsvollen“ Menschen: anspruchsvoll zuallererst an sich selbst – aber auch an uns alle im Feld von Palliative-Care-Tätige. Gute Betreuung von Patient*innen und Angehörigen fordert uns immer wieder in der Komplexität von Krankheitsdynamik, Symptomlast, ethischen Fragen UND Alltagsfragen, sowie der existenziellen Dimension von Sein und Endlichkeit. Dieser Komplexität stellt sich Dietmar. In den vielen Jahren und unterschiedlichen Studiengruppen haben seine Fragen unser aller Horizont erweitert, und zum tieferen Nachfragen eingeladen: Wie überprüfen wir den Therapieerfolg unserer oft „Off-lable“-Medikamentengaben? Gibt es für das, was wir tun, eine Evidenz? Mit welchem Menschenbild/Beziehungsmodell führen wir unsere Arzt-Patienten-Gespräche? (Ich sage nur „deliberativ“ und Emanuel + Emanuel).Doch Dietmar ist auch bereit, Entscheidungen zu treffen, sich zu Antworten durchzuringen und Konflikte einzugehen: Hart in der Sache, freundlich im Ton. Er hat den Mut, Diskussionen anzuregen, Kontroverses auszusprechen und in mühevoller Konsequenz und Beharrlichkeit auch Konsensusprozesse anzustreben – z. B. die österreichische Leitlinie zur palliativen Sedierungstherapie.Er ist auch ein Künstler, und genießt ein gutes Glas Wein, doch ich hoffe, dass er davon selber erzählt hat. MIR ist er in den vielen Jahren, die wir einander kennen, stärkender und humorvoller Kollege und Freund geworden. DANKE dir Dietmar dafür.

Wie beenden Sie Ihren Tag?

Hier werde ich den Pfad der Offenheit einmal verlassen und mich mit einem augenzwinkernden „mal so mal so“ auf den „Geist des Geheimnisses“ (Monika Müller/Matthias Schnegg) berufen.Was ich aber hier teilen will: Ich gehöre zu den Menschen, die sich vor dem Einschlafen die Frage stellen: Für welche drei Erlebnisse bin ich heute dankbar? Und es ist immer wieder erstaunlich, wie viele kleine und große Begebenheiten da nach und nach auftauchen und in mein Abendgebet hineingenommen werden wollen.

Gibt es etwas, dass Sie gerne gefragt worden wären, aber noch nie gefragt worden sind?

„Darf ich dich und deine Großfamilie auf meine griechische Insel einladen?“

Zur Person

Geboren 1966 in Wien, Vater: Franz Mad, Steuerberater; Mutter: Madeleine Mad, stärkende Hausfrau und Mutter, zwei Geschwister. Begeistertes Engagement in der katholischen Jugend Lainz

Ausbildung:

Medizinstudium in Wien, Promotion 1990, Ärztin für Allgemeinmedizin, Palliativmedizin, Diplom für psychosomatische Medizin. Absolvierung des Masterstudiums Palliative Care an der PMU Salzburg 2015

Ärztliche Tätigkeit:

im CS Hospiz Rennweg von 2000–2013,

im (ambulanten) Kinderhospiz und Kinderpalliativteam MOMO seit 2014

Vielfältige Lehrtätigkeiten in Palliative Care:

z. B. seit 2005: Teil des Leitungsteams der Vertiefungsstufe Palliativmedizin des ULG Palliative Care an der PMU Salzburg – viele Jahre gemeinsam mit Dr. Weixler, seit 2013 HPCPH-Trainerin – Hospiz und Palliative Care im Pflegeheim.

Verheiratet seit 1995 mit Dr. Michael Henry, drei Töchter: Miriam 25a, Carolyn 24a, Vivien 18a



Publication History

Article published online:
03 January 2022

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