Zusammenfassung
Ziel der Studie Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht der bislang wenig
beleuchtete Psychiater Johann Recktenwald (1882–1964): Vom Vorwurf des
„Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ freigesprochen, trat er
im Nachkriegsdeutschland mit einer neuropsychiatrischen Abhandlung über
Hitler an die Öffentlichkeit. Doch steht diese Selbstdarstellung eines
Hitler-kritischen Nervenarztes im Einklang mit den überlieferten
historischen Quellen? Wie war Recktenwalds Verhältnis zum NS-Regime, und
wie verhielt er sich im „Dritten Reich“ gegenüber den
ihm anvertrauten Patienten?
Methodik Der Aufsatz basiert im Wesentlichen auf z.T. erstmals
ausgewerteten Dokumenten verschiedenster Archive sowie auf Gerichtsprotokollen.
Diese werden ergänzt und abgeglichen mit den Schriften Recktenwalds und
der verfügbaren Sekundärliteratur.
Ergebnisse Recktenwald diente sich im „Dritten Reich“ in
mehrfacher Hinsicht dem NS-Regime an, trug Mitverantwortung für
zahlreiche Patientenmorde und rückte so in die Rolle eines
NS-Täters. Nach seinem Freispruch im Nachkriegsdeutschland war er
bestrebt, durch die kritische Auseinandersetzung mit der Psychopathologie
Hitlers eine persönliche Distanz zum Nationalsozialismus zu
konstruieren, die zugleich der eigenen Exkulpation diente.
Schlussfolgerung Recktenwald ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel
für den Versuch von NS-Tätern, die eigene Rolle im
„Dritten Reich“ retrospektiv umzuschreiben – und
zugleich Spiegelbild einer Nachkriegsgesellschaft, die bereit war, derartige
biografische Umdeutungen zu akzeptieren, um der Aufarbeitung der
NS-Vergangenheit ausweichen zu können.
Abstract
Aim of the study The focus of this article is the psychiatrist Johann
Recktenwald (1882–1964) who has so far received little attention:
acquitted of the charge of “crimes against humanity”, he went
public in post-war Germany with a neuropsychiatric treatise on Hitler. But is
this appearance as a Hitler-critical psychiatrist consistent with the available
historical sources? What was Recktenwald’s relationship with the Nazi
regime, and how did he behave in the “Third Reich” towards the
patients entrusted to his care?
Methods The paper is largely based on documents from various archives,
some of which have been evaluated for the first time, and on court records. The
latter are supplemented and compared with the writings of Recktenwald and the
available secondary literature.
Results During the “Third Reich”, Recktenwald served the
Nazi regime in many ways, was jointly responsible for numerous patient murders
and thus moved into the role of a Nazi perpetrator. After his acquittal in
post-war Germany, he endeavored to construct a personal distance to National
Socialism by critically examining Hitler’s psychopathology, which at the
same time served his own exculpation.
Conclusion Recktenwald is a particularly impressive example of the efforts
of Nazi perpetrators to retrospectively rewrite their own role in the
“Third Reich” – and at the same time a reflection of a
post-war society that was willing to accept such biographical reinterpretations
in order to avoid coming to terms with the Nazi past.
Schlüsselwörter
Nationalsozialismus - Euthanasie - Zwangssterilisation - biografische Umdeutung - Andernach
Key words
National Socialism - euthanasia - forced sterilization - biographical reinterpretation - Andernach