Psychiatr Prax 2022; 49(08): 446-447
DOI: 10.1055/a-1963-7831
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Depression verstehen und behandeln aus der Sicht der Analytischen Psychologie

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Das Buch möchte die spezifische Haltung der Jungʼschen Psychologie gegenüber Depression den Lesenden näherbringen. Verena Kast betont in ihrer Einführung, dass die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Psychotherapieschulen nicht mehr relevant sind, umso wichtiger erscheint es, die Spezifitäten des Zugangs zum Thema – hier der Analytischen Psychologie – ausführlich zu beschreiben.

Verstehen und Behandeln der Depression ist in der Analytischen Psychologie ein zentrales Thema, heißt es zu Beginn. Zur Depression gehören verschiedene Grade von Niedergeschlagenheit, gedrückter Stimmung, vermindertem Antrieb, Gefühle von Schuld,- Sinn- und Freudlosigkeit, Gedanken von Wertlosigkeit bis hin zu Wahnvorstellungen und Suizidhandlungen. Das Buch möchte eine Anleitung sein, wenn auch am Ende dieses Vorhaben eher infrage gestellt wird. Beutel et al. betonten 2010: „Behandlungsrichtlinien zu formulieren, d. h. Interventionsprinzipien, Therapieelemente, Therapieziele sowie Indikationen und Kontraindikationen zu spezifizieren. Dazu gehören auch Angaben, in welchen Phasen der Therapie und welchen Übertragungs-Gegenübertragungs-Konstellationen, welches Vorgehen empfohlen wird“ [1]. In der Therapie stehen dann die Erwartungen und Motivation der Patientinnen und Patienten gegenüber den Behandlungshypothesen der Therapeutinnen und Therapeuten.

Dabei geht es vor allem um eine Auseinandersetzung mit dem Unbewussten. Jung spricht über eine innere Bibliothek an Wissen, was wir tun können, um den Patientinnen und Patienten zu helfen. Dabei stehen folgende Aufgaben an: den Alltag wieder bewältigen zu können, strukturelle Defizite zu verbessern, kindlich-regressive Einstellungen aufzugeben, das negative Selbstbild zu verbessern, negative Bindungserfahrungen zu integrieren, Ohnmacht und Hilflosigkeit lernen auszuhalten, Konflikte und Komplexe durchzuarbeiten und zu integrieren. Es geht aber auch darum, die Persona der Jungʼschen Psychologie, mit der die Rolle gemeint ist, die jemand im Leben spielt, anzupassen und Projektionen zurückzunehmen, Schatten wahrzunehmen und zu integrieren; dazu gehören die verdrängten, abgewehrten, aber auch unterentwickelten Charakterzüge, Verhaltensweisen und Einstellungen. Die Autoren erklären die theoretischen Hintergründe mithilfe von Behandlungshypothesen. In einem weiteren Kapitel beschäftigen sie sich mit der therapeutischen Haltung. Dabei betonen sie, dass die therapeutische Veränderung auf umfassenderen, komplexen Veränderungen des psychischen Funktionierens beruhen.

Während mir diese Einführung beim Lesen etwas Mühe bereitete, habe ich mich in die zweite Hälfte schnell vertiefen können. Dort geht es um die verschiedenen Phasen der Behandlung. Zur Anfangsphase gehören Exploration, Anamnese, Einschätzung der Konflikte und der Struktur und der Aufbau einer therapeutischen Beziehung. In der mittleren Phase geht es um die Alltagsbewältigung und Verbesserung der strukturellen Defizite und um die Bearbeitung der depressiven Komplexe. Der depressive Komplex umfasst die verzerrte Wahrnehmung des Fühlens, des Denkens, des Selbstbildes und des Verhaltens. Träume, imaginative Bilder und viele, sehr brauchbare Vignetten haben mich gefesselt. In der Endphase können bestimmte Themenkreise, wie z. B. neue Ich-Stärke, neue Einsichten und Verhaltensweisen, weniger Sorgen und Probleme, berücksichtigt werden.

Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit Störungstheorien. Hier wird zunächst C. G. Jungs Verständnis der Depression beschrieben. Dabei erscheint dieses Zitat: „Der Mensch ist nur halb verstanden, wenn man weiß, woraus alles bei ihm entstanden ist … Denn das Leben hat nicht nur ein Gestern, und es ist nicht erklärt, wenn Heute auf das gestern reduziert wird. Das Leben hat auch ein Morgen, und das Heute ist nur dann verstanden, wenn wir zu unserer Kenntnis dessen, was gestern war, noch die Ansätze des Morgen zufügen können. Das gilt vor allen psychologischen Lebensäußerungen, selbst vor den krankhaften Symptomen.“ [2] Aber auch das bio-psycho-sozial-spirituelle Krankheitsmodell und die Typologie der Depression werden diskutiert.

Im Weiteren fiel mir der folgende Satz auf: „Bei chronischen Patient*innen liegt die Priorität im Aufbau einer tragfähigen Beziehung und nicht darin, vorgegebene ,Manuale‘ zu befolgen“. Die Autoren betonen die Bedeutung des Dialogs, die Konflikte in Worte zu fassen, Einsicht zu vermitteln und zu stabilisieren.

Im Weiterem wird auch die Suizidalität ausführlich besprochen. Die Autoren weisen auf die Formulierung von James Hillman hin, der meinte, dass hinter den suizidalen Phantasien der unbewusste Wunsch steht, alte Einstellungen und Überzeugungen sterben zu lassen, damit etwas Neues entstehen kann. Die Autoren beschreiben sehr ausführlich die Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Suizidalität, dabei weisen sie auf die erhöhte Gefährdung hin, wenn wir den depressiven Menschen emotional nicht mehr erreichen können, wenn er sozial isoliert lebt und keine Alltagsstrukturen hat oder wenn er emotional eingeschränkt wirkt und nur negative und hoffnungslose Erlebnisse erzählt. Aber auch dann, wenn Wut und Schuldgefühle gegen die eigene Person gerichtet werden. Sie beschreiben dann klar konkrete Handlungsschritte. Diesen Teil fand ich besonders hilfreich.

Bei den Wirkfaktoren unterscheiden die Autoren allgemeine Faktoren, wie Empathie, oder spezifische Faktoren wie die jungianische Traumdeutung. Dabei betonen sie, dass die moderne Psychotherapieforschung zeigen konnte, dass die allgemeinen Wirkfaktoren das Therapieergebnis besser erklären können. Es scheint, dass eine gute therapeutische Beziehung dadurch erreicht wird, dass von therapeutischer Seite ein Erklärungs- und Veränderungsmodell für das Leiden formuliert wird, das überzeugt. Flexibilität in der Handhabung der Techniken und Methoden führt hier zu besseren Therapieerfolgen. Am Ende des Buches wird noch der Forschungsstand dokumentiert. Zusammenfassend geht es in der Wirksamkeitsforschung um die Kompetenz zur Beziehungsgestaltung durch den Therapeuten oder die Therapeutin (alliance), weniger um das genaue Erlernen und Befolgen eines Manuals (adherence).

Das Buch bietet eine umfassende Übersicht über theoretische Grundlagen, Behandlungsansätze und Empfehlungen aus der Sicht der Analytischen Psychologie. Ich möchte das Buch allen empfehlen, die neue Wege in Therapie der Depression suchen, durch die insbesondere die Imagination und die Träume mehr Bedeutung gewinnen. Dieser Zugang bereichert die therapeutische Haltung in der Behandlung von depressiven Menschen.

Eva Krebs-Roubicek, Forch
E-Mail: e.krebs-roubicek@hin.ch



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
10. November 2022

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