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DOI: 10.1055/a-2049-9952
Traurig aber weise?
Kurt Schneider und der depressive RealismusZusammenfassung: Im Rückgriff auf philosophische Gedanken aus Martin Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit formulierte Kurt Schneider im Jahr 1950 die These, dass Menschen, die an einer psychotischen („endogenen“) Depression leiden, die Welt realistischer beurteilen, weil die Erkrankung für sie den Blick überhaupt erst freilegt auf die grundlegenden Probleme menschlicher Existenz, die Sorgen um Leib, Seele und die Wechselfälle des Lebens. Die Wahnthemen Krankheit, Versündigung und Verarmung sind seiner Meinung nach ausdrücklich nicht Ausdruck psychologischer Mechanismen produktiver Positiv-Symptome, sondern Resultat einer durch den Zustand des Depressiv-Seins aufgedeckten klareren und vorurteilsfreieren Sicht auf die Welt. Ohne jeden Bezug zu Schneider wurde diese Hypothese des depressiven Realismus seit dem Jahr 1979 erneut diskutiert und vielfach empirisch überprüft – mit bislang „gemischten“ Resultaten, was wahrscheinlich methodisch begründet ist.
Im Jahr 1950 publizierte Kurt Schneider (1887–1967) in der Zeitschrift Nervenarzt einen Artikel der Länge von etwas mehr als einer Seite mit dem Titel Die Aufdeckung des Daseins durch die cyclothyme Depression. Die Arbeit enthält nur 2 Anmerkungen mit Hinweisen auf – inhaltlich unwichtige – Quellen. Lediglich die Widmung auf S. 193 links unten klein gedruckt „Martin Heidegger zum 60. Geburtstag“ gibt einen Hinweis zum Kontext der in der Arbeit vorgestellten Gedanken. Schneider war zunächst 2 Rufen nach Hamburg (1934) und Breslau (1938) nicht gefolgt und war dann von 1946 bis zu seiner Emeritierung 1955 ordentlicher Professor und Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg. Seine internationale Bekanntheit gründete sich vor allem auf die von ihm in seinem Hauptwerk Klinische Psychopathologie sehr klar beschriebenen und so benannten Erstrangsymptome der Schizophrenie.
In dem genannten Artikel wirft Schneider die Frage auf, warum depressive Menschen ganz bestimmte Wahnthemen entwickeln, nämlich Verarmung, Versündigung und Krankheit (Hypochondrie). Für ihn ist klar: Warum Wahn bei einer cyclothymen Psychose auftritt oder nicht, „ist nicht beantwortbar.“ „Eines der Symptome ist nun eben der Wahneinfall und nur die Wahl seines Themas beschäftigt uns hier“ ([13], S. 193, rechte Spalte; Hervorhebungen im Original).
Zunächst diskutiert er einige einfache Antworten: Die 3 Themen gehören einfach zur Symptomatik („wie die Pupillenstörungen zur Tabes“); man erlebt leibliche Krankheitssymptome („seelische Reaktion auf das so oft erlebte leibliche Darniederliegen“) und kommentiert sie für sich wahnhaft; man erklärt sein Elend „mit seinen Verfehlungen“; „Gedanken an die Arbeitsunfähigkeit“ können zu Verarmungsgedanken Anlass geben. Er verwirft jedoch diese Überlegungen, weil er sie für zu oberflächlich (oder wie er sagen würde, für „nur“ psychologisch) hält. Rein psychologisch ließe sich durchaus erklären, warum in der Psychose manchmal besondere Charakterzüge eines Menschen hervortreten, erklärt er zuvor mit Bezug auf seinen Kollegen Mayer-Gross [9] und grenzt seine hier diskutierten Gedanken klar davon ab: „Das ist aber hier ausdrücklich nicht gemeint. Wir haben im Gegenteil gerade überindividuelle, übercharakterliche Ängste im Auge, die hier freigelegt werden“ ([13], S. 193, rechte Spalte; Hervorhebungen im Original).
Schneider vertritt dann die These, „dass diese Ängste überhaupt keine positiven, keine produktiven Symptome der [cyclothymen] Psychose sind, sondern dass lediglich die Urängste des Menschen durch die Psychose aufgedeckt werden. Die Angst um die Seele, um den Leib, um die Notdurft des Lebens sind die Sorgen des Menschen“ ([13], S. 193, linke Spalte; Hervorhebungen im Original). Später fährt er wie folgt fort: „Diese Symptome sind eben nur deshalb da, weil sie dem Psychotischen als überindividuelle Merkmale des Menschen vorgegeben sind. Sie sind nur bloßgelegt, nur aufgedeckt“ ([13], S. 193, rechte Spalte; Hervorhebungen im Original).
Schneider bemüht Shakespeares „Hamlet“, das Martin Luther Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ und Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Vanitas! Vanitatum vanitas!“, um alternative, eher psychologisierende Erklärungen zu erwägen und zu verwerfen.[ 1 ] Vielmehr bezieht er seine Überlegungen direkt auf Martin Heidegger (1889–1976): „Sie sind ohne Martin Heidegger nicht denkbar“ ([13], S. 193, rechte Spalte). Das meint er einerseits recht wörtlich, denn er übernimmt eine Reihe von Termini aus der Diktion Heideggers, insbesondere aus dessen Hauptwerk Sein und Zeit: Er spricht von „Dasein“ (im Titel der Arbeit), „Sorge“ und „Geworfenheit“: „Sie [die Sorgen], die seine Bedrohung, Unsicherheit, Hilflosigkeit, ,Geworfenheit‘ eigentlich kennzeichnen, werden ,normaler’weise nicht oder nur selten sichtbar. […] Es ist also kein ,Zufall‘, sondern tief im menschlichen Dasein begründet, dass gerade diese und nicht andere Ängste hier so regelmäßig quälen“ ([13], S. 193, linke Spalte; Hervorhebung im Original).
Wer Heideggers Sein und Zeit schon einmal im Original gelesen hat (oder sagen wir besser: versucht hat, zu lesen), der weiß, dass der Zugang zu Heideggers Werk keineswegs einfach ist. Dabei schreibt er auf Deutsch – leider nur auf Deutsch, möchte man sagen.[ 2 ] Schon im Jahr 1950 kommentiert ein Reporter des Spiegel einen Vortrag Heideggers mit den Worten: „Heidegger hat ja die ärgerliche Gewohnheit, deutsch zu sprechen. […] Etwa so: »Das Wesen der Technik ist das Gestell, das Wesen des Gestells ist die Gefahr, das Gefährliche der Gefahr ist das sich verstellende Wesen des Seins selbst.« Oder: »Der Schmerz ist der Grundriß des Seins, der Tod ist das Gebirg des Seins im Gedicht der Welt«“ [2]. Daher fehlt es auch nicht an Interpretationen“, bis hin zu grafischen „Lesehilfen“ wie in [ Abb. 1 ], bei der es sich um einen etwa 30 %igen Ausschnitt aus einer größeren Grafik handelt.
Bevor wir uns tiefer in Heidegger verstricken, geworfen uns im Dasein verlieren, bei dem es sich speziell um das menschliche Sein handelt, dem In-der-Welt-Sein und dessen Seinsmodalitäten (insonderheit der Sorge), ist es vielleicht besser, wir fragen einfach: Hat Kurt Schneider Recht?
Hier springt uns völlig unerwartet eine – Heidegger erfuhr nichts mehr davon – angloamerikanische empirische Forschungstradition bei, die sich nirgends auf Kurt Schneider – von Martin Heidegger gar nicht zu reden – bezieht, aber dennoch genau seiner Frage nachgeht: Könnte es sein, dass depressive Menschen die Realität eher so wahrnehmen, wie sie ist? Seit der Publikation von Lauren Alloy von der Northwestern University und Lyn Abramson von der State University of New York and Stony Brook aus dem Jahr 1979 wird diese Hypothese unter dem Stichwort Sadder but Wiser? („trauriger aber weiser?“) diskutiert. Die Arbeit wurde seither über 2000-mal zitiert und zur von ihr diskutierten Frage gibt es mittlerweile über 75 wissenschaftliche Untersuchungen sowie 5 Bücher, wie aus einer bereits 11 Jahre alten Übersicht hervorgeht [10]. Der auf den Ideen von Alloy und Abramson aufbauende Artikel Illusion and well-being [14] wurde mehr als 10000-mal zitiert und der New Yorker titelte 2014 Don’t Worry, Be Happy [8].
Gewiss gibt es auch die gegenteilige Hypothese, dass depressive Menschen mit weniger realistischen Einschätzungen und vor allem mit mehr negativen Vorurteilen der Welt und den anderen Menschen entgegentreten [16], aber insgesamt überwiegt doch die Meinung, dass „Depressive ein bemerkenswertes Maß an Realismus in ihren Urteilen über ihre personale und soziale Welt aufweisen, wohingegen die weniger Depressiven eher unrealistisch optimistisch sind“ [15].
Den depressiven Realismus im Experiment nachzuweisen, ist gar nicht so einfach. Alloy und Abramson [1] gingen hierzu von der sehr allgemeinen Überlegung aus, dass Menschen subjektive Erwartungen von objektiven Ereignissen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ausbilden, die von den objektiven Tatsachen abweichen. Untersuchen lässt sich dann diese Abweichung. Messen bzw. erfragen muss man hierzu sowohl die subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeit als auch die objektiv gegebene Wahrscheinlichkeit von Ereignissen. Bereits im Jahr 1965 hatte man in entsprechenden Experimenten gefunden, dass Menschen bei der Beurteilung, ob sie mit ihrer Einschätzung in 60 nacheinander zu erledigenden, sehr ähnlichen Aufgaben richtig liegen, nicht ihre richtigen und falschen früheren Entscheidungen für ihre weiteren Entscheidungen zugrunde legen, sondern nur die richtigen [7]. In 4 Experimenten teilten Alloy und Abramson „ganz normale Studenten“ zunächst nach dem BDI (Beck-Depressions-Inventar[ 3 ]) in depressive (BDI ≥ 9) und nicht depressive Studenten (BDI < 9) ein. Man muss hierzu wissen, dass erst Werte von 18 und darüber als klinisch relevant eingestuft werden, da dieser Wert 2 Standardabweichungen über dem Mittelwert von Gesunden liegt [5]. In 4 Experimenten an 288 Studenten fanden Alloy und Abramson das genannte Muster der subjektiven Bewertung bei den nicht depressiven Studenten, nicht aber bei den depressiven, deren subjektive Einschätzung nicht nur ihre Erfolge, sondern auch ihre Misserfolge widerspiegelte.
In ihrer 2012 publizierten Metaanalyse [10] von 75 Studien zum depressiven Realismus mit 7305 Teilnehmern aus USA, Kanada, England, Spanien und Israel fanden Moore und Mitarbeiter einen geringen Gesamteffekt von depressivem Realismus mit einer Effektstärke (Cohen´s d) von –0,07. Insgesamt wiesen sowohl die gesunden Teilnehmer (d = 0,29) als auch die als depressiv eingestuften Teilnehmer (d = 0,14) eine deutliche positive Realitätsverzerrung auf, die bei den gesunden Teilnehmern größer war. Weiterhin zeigte sich, dass der Effekt des depressiven Realismus umso kleiner war, je methodisch besser die Studie ausgeführt worden war. In einer neueren Studie aus dem Jahr 2016 wählten die Autoren eine prinzipiell andere Vorgehensweise und variierten im Labor mit zufälliger Zuweisung den emotionalen Zustand der Probanden. Sie fanden, dass eine induzierte Traurigkeit eher wertneutrale subjektive Einstellungen hervorruft, induzierte Freude hingegen eher zu positiven subjektiven Bewertungen führt [3].
Zu den neuesten Arbeiten zum depressiven Realismus gehört die von Amelia Dev und Mitarbeitern [4] von der University of California in Berkeley durchgeführte vorregistrierte Studie an 246 Amazon Mechanical Turk Probanden sowie 134 Studenten. Die Studie enthielt methodische Neuerungen im Hinblick auf die Art der Messungen und konnte den Effekt des depressiven Realismus nicht replizieren. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass der depressive Realismus trotz seiner weit verbreiteten Akzeptanz nicht replizierbar ist“ [4] kommentieren die Autoren ihren Befund lapidar. Hat Kurt Schneider nun also Recht oder nicht? – Die wohl ehrlichste Antwort auf diese Frage lautet, dass wir das bis heute nicht wissen. Denn seine Hypothese wurde – trotz des beschriebenen publikatorischen Aufwandes (75 Studien, 5 Bücher) – faktisch gar nicht untersucht. Während er von „cyclothymer Psychose“ spricht, also von Patienten mit schwerer (früher hätte man gesagt: endogener) Depression, wurden die empirischen Studien überwiegend mit klinisch gesunden Studenten durchgeführt.
Als ich bei meinem ersten Aufenthalt im Bereich der Klinischen Psychologie an der Harvard University (William James Hall, 15. Stock, direkt gegenüber von BF. Skinner und Jerry Kagan) im Jahr 1989 herausgefunden hatte, dass es in der klinischen Psychologie in den USA gängige Praxis war, Studenten zu untersuchen, verstand ich zum ersten Mal, warum viele Ergebnisse von gut publizierten Studien zu Psychose oder Depression so gar nicht zu meinen klinischen Erfahrungen als Psychiater passten. Diese Studien bezogen sich fast ausschließlich auf Studenten, die ein bisschen unkonzentriert und eigenartig („Psychose“) oder ein bisschen down („Depression“) waren. Das passte zwar zu den recht breiten und unscharfen diagnostischen Kriterien, die in den USA damals offiziell abgeschafft waren, aufgrund ihrer zuvor jahrzehntelangen Verwendung jedoch noch immer implizit vorgeherrscht haben dürften. Aber es entsprach definitiv nicht den eher scharfen und engen Kriterien der deutschen (und damit auch der britischen) Psychiatrie, die auf Kurt Schneider zurück gingen und die ich in Freiburg und Heidelberg gelernt hatte.
In der aufgeführten Metaanalyse [10] lautete die Diagnose nur bei 5 der 36 Studien (von 75 Studien), bei denen die Diagnose überhaupt angegeben war, Depression, bei den übrigen 31 Studien lautete sie Dysphorie (d. h. Missstimmung ohne Krankheitswert). In den übrigen genannten Studien wurden ausschließlich Studenten untersucht. Dass sich der Effekt in manchen Studien als „dosisabhängig“ erwies (je missgestimmter, desto mehr depressiver Realismus) lässt vermuten, dass er bei richtigen Patienten mit schwerer Depression, wie von Kurt Schneider behauptet, stark ausgeprägt sein könnte. Aber von gesichertem Wissen kann man definitiv nicht sprechen. Daher kann auch von einem gescheiterten Replikationsversuch [4] nicht die Rede sein – denn erstens gab es nichts zu replizieren und zweitens war auch diese Studie mit gesunden Teilnehmern durchgeführt worden.
Halten wir fest: Kurt Schneider formulierte seine Hypothese des depressiven Realismus im Hinblick auf schwer kranke depressive Patienten. Die Studien hierzu wurden an missgestimmten, gesunden Studenten durchgeführt und sagen über die Gültigkeit von Schneiders Hypothese – nichts! Schade.
Publication History
Article published online:
07 July 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Alloy L, Abramson LY. Judgment of Contingency in Depressed and Nondepressed Students: Sadder but Wiser? Journal of Experimental Psychology. General 1979; 108: 441-485
- 2 Anonymus. Rückfall ins Gestell. Der Spiegel 1950, 41: 35.. www.spiegel.de/politik/rueckfall-ins-gestell-a-9ce7caa9-0002-0001-0000-000044447837?context=issue abgerufen am 25.5.2023
- 3 Baillon A. et al Sadder but wiser: The effects of emotional states on ambiguity attitudes. Journal of Economic Psychology 2016; 53: 67-82
- 4 Dev AS. et al Sadder ≠ Wiser: Depressive Realism Is Not Robust to Replication. Psychology 2022; 08: e1-e12
- 5 Hautzinger M. et al Beck-Depressions-Inventar (BDI). Testhandbuch. 2. Auflage. Bern: Hans Huber; 1995
- 6 Heidegger M.. Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer Verlag; 1927
- 7 Jenkins HM, Ward WC. Judgment of contingency between response and outcome. Psychological Monographs 1965; 79: 1-17
- 8 Konnikova M.. Don’t Worry, Be Happy. The New Yorker. 18. Juni 2014
- 9 Mayer-Gross W. Die Enthüllung des Charakters in der Psychose. Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 1922; 27: 405
- 10 Moore MT, Fresco DM. Depressive realism: A meta-analytic review. Clinical Psychology Review 2012; 32: 496-509
- 11 Pigor T, Eichhorn B.. „Heidegger“. in: Pigor singt, Benedikt Eichhorn muss begleiten. Bochum: Roof Music GmbH; 1999
- 12 Schneider K.. Klinische Psychopathologie. Stuttgart: Thieme; 1967
- 13 Schneider K. Die Aufdeckung des Daseins durch die cyclothyme Depression. Der Nervenarzt 1950; 21: 193-194
- 14 Taylor SE, Brown JD. Illusion and well-being: A social psychological perspective on mental health. Psychological Bulletin 1988; 103: 193-210
- 15 Wong KFE. et al Understanding the emotional aspects of escalation of commitment: The role of negative affect. Journal of Applied Psychology 2006; 91: 282-297
- 16 Zetsche U. et al Future expectations in clinical depression: Biased or realistic?. Journal of Abnormal Psychology 2019; 128: 678-688