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DOI: 10.1055/a-2395-5628
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
die Ankündigung der Björn Steiger Stiftung, eine Verfassungsbeschwerde gegen das soeben verabschiedete Landes-Rettungsdienst-Gesetz Baden-Württemberg vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einzulegen, ist mehr als eine juristische Randnotiz und geht alle an der notfallmedizinischen Versorgung Beteiligten in Deutschland an. Nach Ansicht der Stiftung kommt der Staat seiner Pflicht zur Wahrung der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger nur ungenügend nach, da die Zuständigkeiten und Strukturen bei Notfällen nicht umfassend geklärt seien und längst nicht mehr international üblichen, fachlichen Standards entsprächen. Die Stiftung bemängelt, dass fehlerhafte Vorgaben und vollkommen veraltete Organisationsstrukturen seit Jahren die Überlebenswahrscheinlichkeit von lebensbedrohlich Erkrankten beeinflussen, obwohl sich aus dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1) ein zentraler verfassungsrechtlicher Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf ein funktionierendes Rettungsdienstsystem ergebe. Bereits 1973 verklagte Stiftungsgründer Siegfried Steiger das Land Baden-Württemberg und die Bundesrepublik Deutschland vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart wegen vorsätzlich unterlassener Hilfeleistung und erreichte damit die bundesweite Einführung der Notrufnummern 110 und 112. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die neuerliche Verfassungsbeschwerde nicht nur Erfolg, sondern eine ähnlich weitreichende Veränderungswirkung haben könnte. Ein kürzlich vom ehemaligen Verfassungsrichter Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio vorgestelltes Gutachten weist dazu in Grundzügen bereits den Weg [1].
Aber was wird, was muss und was sollte sich ändern im Rettungswesen in Deutschland, um einem international üblichen, fachlichen Standard der Notfallmedizin wieder hinreichend gerecht zu werden? Fünf Punkte, die wir in Deutschland endlich angehen müssen:
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Wir müssen unsere Leitstellen endlich zu größeren, einheitlich, standardisiert und qualitätsgesichert arbeitenden Netzwerken zusammenfassen. Evidenzbasierte, international etablierte, standardisierte Notrufabfragesysteme, die, verlässlich und reproduzierbar, differenzierte Patientensteuerung überhaupt erst ermöglichen, sind eine alternativlose Voraussetzung für nahezu jedwede Verbesserung des Systems [2]. Dazu zählt auch, dass die Arbeit von Leitstellen mehr ist als nur die Entgegennahme von Notrufen und konsekutive Entsendung eines Rettungswagens. Unsere Leitstellen sind die zentralen Steuerungsorte für das gesamte Notfallmanagement von der standardisierten Notrufabfrage über die telefonische Anleitung zu Erstmaßnahmen bis hin zur Steuerung und Überwachung aller für eine medizinisch fachgerechte Notfallversorgung notwendigen Ressourcen sowie der Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems [3].
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Aufbauend auf einer einheitlichen, standardisierten Notrufabfrage braucht es eine Ausdifferenzierung der Antwortoptionen, mit denen auf ein Hilfeersuchen reagiert werden kann. Jenseits von Krankentransport-, Rettungswagen, Notarzteinsatzfahrzeug und Rettungshubschrauber braucht es weitere durch die Leitstelle rund um die Uhr disponierbare „Einsatzmittel“ mit unterschiedlichen an medizinischer Evidenz orientierten Bedarfsplanungs- und Entsendungszeiten, um fachgerecht reagieren zu können [4]. Inzwischen ist ein überwältigender Anteil der auf den Rettungsdienst angewiesenen Menschen alt, chronisch krank und allein [5] [6]. Für die Hilfeersuchen dieser Menschen braucht es mehr und andere Antworten des Rettungswesens. Das schließt die Verordnungs- und Veranlassungsfähigkeit einer Krankenfahrt mit dem Taxi, einer verlässlichen (technischen und organisatorischen) Schnittstelle zur Weiterleitung von weniger dringlichen medizinischen Hilfeersuchen an den Kassenärztlichen Notdienst und den Einsatz von sogenannten Gemeindenotfallsanitätern genauso ein wie neue Einsatzmittel zur spezialisierten ambulanten Notfallversorgung. Hier müssen neue Wege wie etwa zur Notfallversorgung von Menschen in psychischen Krisen („Mental Health Response Team“), pflegerischen Notfällen, Notfällen am Lebensende (spezialisierte ambulante Palliativversorgung, SAPV-Teams) oder zu einer deutschlandweit verlässlichen Entsendung besonders spezialisierter Luftrettungsteams rund um die Uhr gedacht werden. Ziel muss es sein, die Möglichkeit einer fachgerechten, fallabschließenden Behandlung am Notfallort deutlich zu erhöhen [7] [8].
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Es braucht aber auch eine Weiterentwicklung der am Rettungsdienst beteiligten Berufsbilder. Angefangen von der Modularisierung, Vereinheitlichung und Professionalisierung der Rettungssanitäter-Ausbildung, der (Teil-)Akademisierung des Berufs des Notfallsanitäters bis hin zu einer Weiterentwicklung und Differenzierung des Einsatzes von Ärzten im Rettungsdienst. Zur Wahrung eines einheitlichen und verlässlichen Facharztstandards in der Patientenversorgung und zur Gewährleistung einer umfassenden und zeitgemäßen Aus- und Weiterbildung von Notärzten scheint hier eine Differenzierung der ärztlichen Aufgaben- und Funktionsbeschreibungen wie etwa in Berlin geboten [9]. Es ist offensichtlich, dass in Zeiten eines dramatisch zunehmenden Fachkräftemangels insbesondere im Gesundheitswesen der Einsatz von Ärzten im Rettungsdienst ziel- und bedarfsgerichteter und einhergehend mit einem höheren Maß spezifischer Expertise, erweitertem Equipment und reproduzierbarer Exzellenz erfolgen muss. Dazu gehört offensichtlich auch die fachlich weitere Ausbuchstabierung ärztlicher Rollen in der telemedizinischen Beratung und Behandlung, die Professionalisierung und Weiterentwicklung der ärztlichen Leitungen des Rettungsdienstes als interprofessionelle organisatorisch gesamtverantwortliche Einrichtungsleitungen im Sinne der für das Gesundheitswesen maßgeblichen Gesetze. Jenseits des Rettungsdienstes, zum Einsatz in der klinischen Notfall- und Akutmedizin, sollte die Einführung einer eigenständigen Facharzt-Gebietsbezeichnung nach dem Vorbild der überwältigenden Mehrheit der europäischen und angloamerikanischen Nachbarn weiterentwickelt werden [10] [11] [12].
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Die prähospitale Notfallmedizin in Deutschland wird sich in Zukunft stärker als in der Vergangenheit an der Leitlinien- und Evidenztreue messen lassen müssen. Es gehört zu den Erfolgen der Einführung des Berufs des Notfallsanitäters, dass seit 2014 in immer größerem Maße standardisiert entlang von SOPs und medizinischen Handlungsanweisungen im Rettungsdienst gearbeitet wird. Derartiges Clinical Governance Framework muss aber entlang des jeweils aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft nicht nur kontinuierlich weiterentwickelt, sondern für alle beteiligten Berufsbilder einschließlich der Ärzteschaft ausgebaut und gelebt werden. Dabei sollte im rettungsdienstlichen Qualitätsmanagement der kommenden Jahre der Fokus solcher operationalisierten fachlichen Vorgaben weniger auf der Delegation und dem Bereitstellen eines „erlaubten“ Ermöglichungsspielraums unterschiedlicher diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen als vielmehr auf der verlässlichen, vollumfänglichen wie fachgerechten Versorgung liegen. Mutmaßlich liegt das quantitativ größte Qualitätsdefizit in der rettungsdienstlichen Versorgung in Deutschland inzwischen eher im Unterlassen medizinisch gebotener Maßnahmen als in deren fehlerhafter Anwendung. Das darf so nicht bleiben, eine fachgerechte Versorgung nach dem Stand der Wissenschaft und im jeweils situativ angemessenen und erforderlichen Umfang muss systematischer Standard und verlässlicher Handlungsauftrag für alle beteiligten Berufe sein. Das schließt auch ein, dass es weder Modell- oder Leuchtturmprojekten noch einzelnen besonders engagierten Kolleginnen und Kollegen überlassen sein darf, ob einem Menschen mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand irgendwo in Deutschland per telefonisch angeleiteter Reanimation, durch via App hinzugerufene Ersthelfer oder die Beibringung von automatisierten externen Defibrillatoren (AEDs) geholfen wird. Es ist ein ebenenübergreifendes Organisationsverschulden, dass wir solch eine leitliniengerechte Versorgung des außerklinischen Herz-Kreislauf-Stillstands bisher in Deutschland nicht flächendeckend und hinreichend verlässlich umgesetzt bekommen [13] [14] [15] [16].
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Während das Rettungswesen bis heute häufig in seiner Zuständigkeit nur im engeren Sinne von Notruf bis Einsatzende verstanden wird, ist es offensichtlich, dass es inzwischen stärker eine Systemperspektive braucht, um auch einsatzunabhängig der gewachsenen Inanspruchnahme von Notfallstrukturen begegnen zu können. Dazu zählt auch die Etablierung von Strukturen eines vorbeugenden Rettungsdienstes, der sich präventiv um Strukturen kümmert, welche die Entstehung hinreichend wahrscheinlicher und wiederkehrend häufiger Notfälle verhindern. Das schließt räumliche Einsatzhotspots genauso ein wie besonders vulnerable Personengruppen oder einzelne „Frequent-Caller/-User” [17].
All diese Punkte sind weder vollzählig noch vollständig, aber von Essenz, wenn wir die Notfallmedizin im Sinne des Grundgesetzes zeitgemäß zum Schutz von Leib, Leben und Gesundheit weiterentwickeln wollen. Dazu braucht es positiven Pioniergeist und Progressivität auf allen Ebenen: In der Medizin, dem Rettungswesen, der Politik und der Gesellschaft. Medizin und die Notfallmedizin bleiben dabei zuallererst eine soziale Wissenschaft, die dann gut und erfolgreich ist, wenn sie für die ihr anvertrauten, hilfsbedürftigen Menschen gedacht und gemacht wird. Haben wir also Gutes im Sinn, seien wir Vorbild für andere Baustellen in unserem Land und nehmen wir diesen Erneuerungs- und Entwicklungsauftrag an!
Mit diesen Gedanken wünschen wir viel Spaß bei der Lektüre des vorliegenden Hefts.
Publication History
Article published online:
08 October 2024
© 2024. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Björn Steiger Stiftung. Gutachten: Bundesrepublik Deutschland kommt ihrem medizinischen Versorgungsauftrag nicht ausreichend nach. Accessed August 21, 2024 at: https://rettungslandschaft.steiger-stiftung.de/gutachten-bundesrepublik-deutschland-kommt-ihrem-medizinischen-versorgungsauftrag-nicht-ausreichend-nach/
- 2 Mayr B. Strukturierte bzw. standardisierte Notrufabfrage. Notfall Rettungsmed 2020; 23: 505-512
- 3 Breuer F, Brettschneider P, Poloczek S. et al. Quo vadis, gemeinsames Notfallleitsystem?. Notfall Rettungsmed 2022;
- 4 Pitz A. Die Reform der Notfallversorgung 2.0 – Rahmenbedingungen und gesetzgeberische Möglichkeiten. Die Sozialgerichtsbarkeit 2023;
- 5 Roessler M, Schulte C, Bobeth C. et al. Hospital admissions following emergency medical services in Germany: analysis of 2 million hospital cases in 2022. Med Klin Intensivmed Notfmed 2024;
- 6 Herr D, Bhatia S, Breuer F. et al. Increasing emergency number utilisation is not driven by low-acuity calls: an observational study of 1.5 million emergency calls (2018–2021) from Berlin. BMC Med 2023; 21: 184
- 7 Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung. Neunte Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und – bedarfsgerechte Krankenhausversorgung Reform der Notfall- und Akutversorgung: Rettungsdienst und Finanzierung. 07.09.2023 Accessed August 21, 2024 at: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/BMG_Stellungnahme_9_Rettungsdienst_bf.pdf
- 8 Dahmen J, Bouillon B, Royko M, Karagiannidis C. Flächendeckende Notfallreform: Luftrettung maßgeblicher Faktor. Dtsch Arztebl Ausg A 2023; 119: A 806-812
- 9 Breuer F, Dahmen J, Malysch T. et al. Strukturqualität im Berliner Notarztdienst: Funktionen, Qualifikationen und Kompetenzerhalt. Notfall Rettungsmed 2023; 26: 602-610
- 10 Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung. Vierte Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland Integrierte Notfallzentren und Integrierte Leitstellen. 13.02.2023 Accessed August 21, 2024 at: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/Vierte_Stellungnahme_Regierungskommission_Notfall_ILS_und_INZ.pdf
- 11 Deutscher Bundestag – Wissenschaftlicher Dienst. Zur aktuellen Diskussion über die Einführung eines Facharzttitels für Notfallmedizin. 09.05.2023 Accessed August 21, 2024 at: https://www.bundestag.de/resource/blob/952820/5d6dd1da3563629fdc6018f1ca45223d/WD-9–024–23-pdf.pdf
- 12 Deutsche Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin e. V. (DGINA). Hintergrundpapier zum Facharzt/Fachärztin für Notfallmedizin. 01.05.2024 Accessed August 21, 2024 at: https://www.dgina.de/images/news/news2024/hintergrundpapier_facharztweiterbildung_notfallmedizin.pdf
- 13 Berliner Feuerwehr. Medizinische Handlungsanweisungen (SOP) Berliner Notfallrettung 2024. 2023 Accessed August 21, 2024 at: https://www.berliner-feuerwehr.de/fileadmin/bfw/dokumente/Publikationen/Rettungsdienst/Medizinische_Handlungsanweisungen_Berliner_Notfallrettung_2024.pdf
- 14 Strobel J, McIntyre I, Griffiths D. et al. Advanced Paramedic Practitioner – eine Lösung für die Herausforderungen im deutschen Rettungsdienst?. Notfall Rettungsmed 2024;
- 15 Krafft T, Neuerer M, Böbel S, Reuter-Oppermann M. Notfallversorgung & Rettungsdienst in Deutschland. Partikularismus vs. Systemdenken. Gütersloh, Winnenden: Bertelsmann Stiftung, Björn Steiger Stiftung; 2022
- 16 Pommerenke C, Poloczek S, Breuer F. et al. Automated and app-based activation of first responders for prehospital cardiac arrest: an analysis of 16.500 activations of the KATRETTER system in Berlin. Scand J Trauma Resusc Emerg Med 2023; 31: 105
- 17 Breuer F, Beckers SK, Dahmen J. et al. Vorbeugender Rettungsdienst – präventive Ansätze und Förderung von Gesundheitskompetenz an den Schnittstellen zur Notfallrettung. Anaesthesiologie 2023; 72: 358-368