Zusammenfassung
Einleitung Der Trieb gehört zu den provokantesten und umstrittensten Annahmen der Psychoanalyse.
Im deutschsprachigen sexualwissenschaftlichen Diskurs stehen Gunter Schmidt mit seiner
kritischen Historisierung des Triebkonzepts und Volkmar Sigusch mit seinem „Lob des
Triebes“ exemplarisch für zwei widerstreitende Positionen zum Triebkonzept.
Forschungsziele Der Beitrag möchte die seit Mitte der 1970er-Jahre und bis in die jüngere Vergangenheit
geführte Debatte zwischen Schmidt und Sigusch rekonstruieren und dabei konzeptuelle
Unklarheiten und Missverständnisse auf beiden Seiten herausarbeiten. Letztlich geht
es dabei um das fragliche gesellschaftskritische Potenzial des Triebbegriffs.
Methoden Es wird zwischen einer psychologisch-konzeptuellen und einer zeitdiagnostischen Ebene
in der Debatte differenziert und es werden zentrale Argumente Schmidts und Siguschs
auf diesen Ebenen herausgearbeitet. Zur Frage der von Sigusch und Schmidt nur ungenügend
theoretisierten Dialektik von Sexuellem und Nicht-Sexuellem wird Jean Laplanches „
Allgemeine Verführungstheorie“ in die Debatte eingebracht.
Ergebnisse Schmidt kritisiert ein vereinfachtes Konzept des Triebes, wenn er einen Gegensatz
von Trieb und Bedeutung behauptet. Seine Kritikpunkte laufen gegen einen dialektischen
Triebbegriff im Anschluss an Sigusch und Laplanche ins Leere. Die zeitdiagnostischen
Differenzen zwischen den liberal-optimistischen Einschätzungen Schmidts und den pessimistischen
Urteilen Siguschs lassen sich als Konsequenzen aus der ursprünglich differenten Konzeption
sexueller Motivation verstehen. Beide Diagnosen werden als vereinfacht problematisiert.
Schlussfolgerung Der Artikel schließt mit einem Plädoyer für den Trieb als Grundbegriff einer kritischen
Sexualwissenschaft, in dessen Konzeption theoretische Impulse sowohl von Schmidt als
auch Sigusch aufgenommen werden.
Abstract
Introduction The drive is one of the most provocative and controversial assumptions in psychoanalysis.
In the German-speaking sexual science discourse, Gunter Schmidt’s critical historicization
of the concept of the drive and Volkmar Sigusch’s “Praise of the Drive” are two exemplary
opposing positions on the concept of drive.
Objectives The aim of this article is to reconstruct the debate between Schmidt and Sigusch
from the mid-1970s to the recent past, and to identify conceptual ambiguities and
misunderstandings on both sides. Ultimately, the focus is on the socio-critical potential
of the concept of drive.
Methods A distinction will be made between the psychological-conceptual and the social-diagnostic
levels of the debate, and Schmidt’s and Sigusch’s central arguments will be discussed
on these levels. Jean Laplanche’s “General Theory of Seduction” is introduced into
the debate on the question of the dialectic of the sexual and the non-sexual, which
is insufficiently theorized by Sigusch and Schmidt.
Results Schmidt criticizes a simplified concept of drive when he claims a contrast between
drive and meaning. His points of criticism run into nothing against a dialectical
concept of drive following Sigusch and Laplanche. The differences in the diagnosis
of contemporary society between Schmidt’s liberal-optimistic assessments and Sigusch’s
pessimistic judgments can be understood as consequences of the originally different
conceptions of sexual motivation. Both diagnoses are problematized as oversimplified.
Conclusion The article concludes with a plea for the drive as a basic concept of a critical
sexual science, in whose conception both Schmidt’s and Sigusch’s theoretical impulses
are incorporated.
Schlüsselwörter
Jean Laplanche - Gunter Schmidt - Sexualwissenschaft - Volkmar Sigusch - Triebtheorie
Key words
drive theory - Jean Laplanche - Gunter Schmidt - sexual science - Volkmar Sigusch