Dtsch Med Wochenschr 1952; 77(33/34): 973-976
DOI: 10.1055/s-0028-1117125
Epistolae Medicinales

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Allgemeines Anpassungssyndrom (Selye) und Pathogenese der Infektionskrankheiten

F. O. Höring
  • Innere Abteilung des Städt. Krankenhauses, Worms a. Rh.
Further Information

Publication History

Publication Date:
05 May 2009 (online)

Zusammenfassung

Die Anwendung des Schemas des Allgemeinen Anpassungssyndroms auf Infektionskrankheiten ergibt, daß es diesem Prüfstein gegenüber nicht standhält, da sich seine Allgemeingültigkeit für alle Stress-Arten nach dem Stand unserer pathogenetischen Erkenntnisse hier nicht aufrecht erhalten läßt. Die wichtigsten Gründe hierfür sind:

1. In der Infektionspathogenese läßt sich spezifisches und unspezifisches Geschehen nicht trennen oder gar in Gegensatz stellen, da Spezifisches nur graduell verschieden ist von Unspezifischem, wie in der Pathergielehre schon seit langem erkannt.

2. Deshalb erweist sich auch die Annahme des Allgemeinen Anpassungssyndroms, daß mit der Ausbildung des spezifischen Widerstandes der unspezifische abnehme, als nur teilweise zutreffend.

3. Das Allgemeine Anpassungssyndrom gibt für das grundlegend wichtige Phänomen der normierten Inkubationszeit zyklischer Infektionskrankheiten (Stad. I) keine Erklärungsmöglichkeit.

4. Das Allgemeine Anpassungssyndrom berücksichtigt nicht die typischen 2 Hauptstadien der Manifestation zyklischer Krankheiten (Stad. II und III), Generalisation und Organmanifestation bzw. was dem entspricht: sympathiko- und vagotrope bzw. ergo- und trophotrope, bzw. Kampf- und Heilphase.

5. Die klinischen Erfahrungen über die Anwendung des Cortisons bei zyklischen Infektionskrankheiten (günstige Wirkung auf Stad. II, ungünstige auf Stad. III) haben diesen Mangel im Schema des Allgemeinen Anpassungssyndroms inzwischen in praxi unterstrichen.

6. Die Abhängigkeit eines Infektionsprozesses von der Ausgangslage des Wirtsorganismus, d. h. der jeweiligen Art seiner Empfänglichkeit findet im Allgemeinen Anpassungssyndrom keinen Niederschlag.

7. Die Dreiphasenbildung im Sinne des Allgemeinen Anpassungssyndroms läßt sich daher nur auf Lokalinfektionen, nicht auf zyklische anwenden. Bei diesen ist die Phasenbildung eine andere. Die 3. Phase des Allgemeinen Anpassungssyndroms stellt aber heuristisch für die hyperergischen Nachkrankheiten (Adaptationskrankheiten) zweifellos eine wertvolle Konzeption dar. Seine Bedeutung liegt also hauptsächlich auf diesem Gebiet.

8. In der Pathergie-Theorie hatte die Pathogenese der Infektionskrankheiten schon früher eine umfassendere Methodik der Phasenanalyse gefunden. Die endokrinen Vorgänge, besonders die des Hypophysen-Nebennieren-Systems und damit auch das Allgemeine Anpassungssyndrom, werden von dieser mitumfaßt als ein spezieller Aspekt der pathergischen Phasen. Keinesfalls läßt sich das pathergische Geschehen dem des endokrinen unterordnen.

    >