Dtsch Med Wochenschr 1952; 77(40): 1211-1213
DOI: 10.1055/s-0028-1117195
Klinik und Forschung

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Erkrankt der Fötus bei Graviditätspoliomyelitis?

Gian Töndury
  • Anatomischen Institut der Universität Zürich (Direktor: Prof. Dr. G. Töndury)
Further Information

Publication History

Publication Date:
05 May 2009 (online)

Zusammenfassung

Im Anschluß an eine kurze Übersicht über die Wirkung des Rubeolenvirus auf den menschlichen Keimling wurde die Frage diskutiert, ob der Keimling auch bei Poliomyelitis in graviditate erkrankt. In der bisherigen Literatur wurde diese Frage verneint, da bisher noch niemals gesehen worden ist, daß ein Kind bei der Geburt die Zeichen einer mehr oder weniger lang zurückliegenden intrauterin durchgemachten Poliomyelitis bot.

Nach unseren Beobachtungen an Föten, deren Mütter in den ersten Wochen der Schwangerschaft an Rubeolen erkrankt waren, dringt das Rubeolenvirus aus dem mütterlichen Blut durch das intakte Chorionepithel in die kindliche Blutbahn ein, bewirkt aber beim Fötus keine Allgemeinerkrankung, sondern befällt nur bestimmte Organe — Linsen, Epithelien des Innenohres, und Schmelzorgane der Zahnanlagen — und übt in diesen seine zerstörende Wirkung aus.

Neueste Untersuchungen über das Verhalten des Poliomyelitis-Erregers haben gezeigt, daß es sich genauer um Viren handelt, von denen drei Standardstämme unterschieden werden. Diese sind nicht, wie allgemein angenommen wurde, ausschließlich neurotrope, sondern pantrope Viren und wachsen auf Nerven- und Nichtnervengewebe. Sie wurden im Verdauungstraktus, im Muskel und im Blut nachgewiesen und können damit bei Erkrankung einer Gravida auch mit dem Chorionepithel in Berührung kommen.

Es wird über Befunde an den Linsen eines etwa 14 cm langen Keimlings berichtet, dessen Mutter 109 Tage nach der zuletzt erfolgten Menstruation an Poliomyelitis erkrankte. Die Linsen zeigten die gleichen Zerfallserscheinungen an den im Auswachsen begriffenen Fasern wie die Föten, deren Mütter eine Rubeola durchgemacht hatten. Es wird die Vermutung geäußert, daß die Linsen des Keimlings als Kulturmedien wirken. Infolge ihres sehr intensiven Nukleoproteidstoffwechsels bieten sie ganz besonders günstige Bedingungen für eingedrungene Viren.

Eine Embryopathie, wie sie nach Rubeola und offenbar auch Poliomyelitis in graviditate auftreten kann, hat also nichts Gemeinsames mit dem Krankheitsbild bei den Müttern. Der Keimling muß vielmehr als Wachstumsmedium aufgefaßt werden und verhält sich damit gleich wie das Hühnchen, das für die Züchtung in vitro benützt wird.

    >