Dtsch Med Wochenschr 1937; 63(52): 1937-1941
DOI: 10.1055/s-0028-1121994
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Erbklinik der Idiosynkrasien

V. Die Idiosynkrasien gegen Nahrungsmittel*: (alimentäre oder nutritive Allergien) mit besonderer Berücksichtigung der Symptome am Verdauungsapparat (enterale Allergien)E. Hanhart - Privatdozent für Konstitutions- und Vererbungsforschung
  • Medizinischen Universitäts-Poliklinik in Zürich. Leiter: Prof. W. Löffler
* I, II und III vgl. 1934 Nr. 29, 31, 46, 47, 49, 50, 52; IV vgl. 1936 Nr. 49, 50, 51; V vgl. 1937 Nr. 47, 48, 49, 50, 51.
Further Information

Publication History

Publication Date:
04 May 2009 (online)

Zusammenfassung

Die Überempfindlichkeiten gegen Nahrungsmittel stellen die häufigsten Allergien überhaupt dar und kommen noch öfter als das Heufieber, also wohl bei mehr als zehn von hundert Personen vor. Ihre Frequenz scheint sich mit der allgemeinen Differenzierung zu steigern, wenn auch nicht so ausgesprochen wie bei den bisher hier behandelten allergischen Krankheiten.

Viele Menschen, selbst Ärzte, werden sich ihrer alimentären I. nicht bewußt, weil diese sich in Symptomen äußern, deren gelegentlich nutritiv-allergische Genese noch wenig bekannt ist.

Dies gilt vor allem für die nicht am Verdauungskanal als sog. enterale Allergien oder auf der Haut in Erscheinung tretenden Manifestationen. Man vergleiche unsere sicher noch nicht vollständige Zusammenstellung, aus welcher hervorgeht, daß, abgesehen vom Asthma und der Migräne u. a., auch Konjunktivitiden, Rhinitis vasomotorica, Menièresche Schwindelanfälle, paroxysmelle Tachykardien und eine Reihe von vieldeutigen nervösen Störungen, wie abnormer Ermüdungs-, Schlaflosigkeits- und Angstzustände, ja selbst epileptiforme Anfälle reine Folgen alimentärer Allergisierung sein können.

Ebenso merkwürdig wie typisch ist die auch auf diesem Gebiete zum Ausdruck kommende, zuweilen weitestgehende Spezifität der Allergie, die sich bezüglich der Allergene bzw. deren Produzenten sogar auf Subspezies und Unterrassen erstrecken kann.

Differentialdiagnostisch gegenüber Nahrungsmittelvergiftungen wichtig ist außer der Eosinophilie im Blut oder im Darmschleim das meist rasche, anfallsweise und oft geradezu explosive Auftreten der Erscheinungen, deren Ablauf sich in schweren Fällen wie beim anaphylaktischen Schock gleichsam überstürzt, um bei glücklichem Ausgang gewöhnlich überraschend schnell wieder abzuklingen.

Fast pathognomonisch ist die meist geringe Neigung der alimentären Allergiker zu Dyspepsien. Die Auffassung C. Funcks, wonach nicht die idiosynkrasische Bereitschaft, vielmehr die Schädigung der Schleimhautbarriere im Magendarmkanal ausschlaggebend für die Entstehung derartiger Allergien sei, trifft sicher in der großen Mehrzahl der Fälle nicht zu. Wir haben sehr ausgesprochene Nahrungsmittel-I. bei hervorragend widerstandsfähigen, vegetativ sowie psychisch aufs beste ausgeglichenen Personlichkeiten mit tadelloser Verdauung nachweisen können, und umgekehrt genug schwere Astheniker mit chronischen Magendarmstörungen beobachtet, die von alimentären Allergien völlig frei blieben, wenn sie keine ererbte idiosynkrasische Bereitschaft hatten.

Je deutlicher sich die allergische Bereitschaft bei einem Individuum und seinen Blutsverwandten kundgibt, um so weniger bedarf es einer den Durchtritt artfremden Eiweißes erleichternden Verdauungsstörung, um eine alimentäre Allergisierung auszulösen. Anderseits erhöht sich die Bedeutung dieser sowie anderer fraglos immer in Betracht zu ziehender Hilfsmomente bei weniger hervortretender Anlage zu I.

Der große Wert einer genauen Anamnestik geht schon aus der von allen Kennern betonten Unzuverlässigkeit und Gefährlichkeit der Hautproben hervor, die, kutan angelegt, hier besonders häufig versagt und in Form intrakutaner Testung schon bei schwacher Dosierung schwerste Schocks ausgelöst haben. Haben sich doch selbst oral dargereichte Versuchsmengen in einzelnen Fällen als lebensbedrohend, ja tödlich erwiesen.

Allergikersippen mit ganz überwiegend alimentaren I. sind nicht so selten wie dies bisher angenommen wurde. Wie es Familien mit dominanter Migräne auf nutritiv-allergischer Grundlage gibt, so finden sich Sippen mit fast ausschließlich enteralen Allergien sowie auch solche mit gehäufter Urtikaria oder Neurodermitiden, die, ohne gastrointestinale Beschwerden zu machen, vom Darm aus bewirkt werden.

Eineiige Zwillinge zeigen öfters nicht allein hinsichtlich ihrer ererbten Bereitschaft zu I., sondern auch in bezug auf die Neigung zu enteralen Allergien gegen dieselben oder verschiedene Stoffe Konkordanz.

Selbst innerhalb ganzer Sippen kann die Manifestationsform enteraler Allergien nahezu einheitlich sein und z. B. in explosivem Erbrechen bestehen, auch wenn sich die Überempfindlichkeit gegen sehr verschiedene Nahrungsmittel, nämlich wie in unserem wichtigsten Stammbaum auf diesem Gebiet (vgl. Nr. 12) gegen Käse, Schweinefleisch, Meerfische, Hummern oder Spargel richtet.

Umgekehrt kann sich eine familiäre I. z. B. gegen Erdbeeren bei Geschwistern andauernd verschieden, d. h. bei der einen Schwester einzig in Urtikaria, bei der anderen dagegen in Magenstörungen äußern. Dieses Verhalten kommt aber nur ganz ausnahmsweise vor.

Selten trifft man auch einmal auf familiäre Nahrungsmittel-Allergien von so weitgehender Spezifität, daß sich die I. z. B. auf die Früchte einer bestimmten Pflanzenart, wie Walderdbeeren, beschränkt (Beobachtung von Touton), ähnlich wie wenigstens bei Geschwistern eine isolierte respiratorische Allergie gegen Lindenblütenpollen festgestellt wurde (Sticker).

Im allgemeinen wiegen die I. gegen ganz bestimmte Allergengruppen aus verschiedenen Nahrungsmitteln vor. Auffällig ist, daß auch stark polyvalent alimentär-allergische Personen von sonstigen I., wie z. B. gegen die zeitweise ubiquitären Pollen, also von Heufieber, zeitlebens freibleiben können, was darauf schließen läßt, daß hier doch auch lokale Prädispositionen wesentlich mitspielen müssen.

Die familiären I. gegen Eiereiweiß, die wie in den von Laroche und Ellinger beschriebenen Sippen völlig isoliert, d. h. ohne jede andere Allergie aufzutreten scheinen, lassen sich jedenfalls nicht allein mit einer dominanten Anlage zu erhöhter Sensibilisierbarkeit erklären. Dasselbe gilt auch für die von Leidig mitgeteilte I. von Vater und zweiSöhnen gegen eine bestimmte Pilzart, die ebenfalls von keinerlei sonstigen Allergien begleitet gewesen sein soll. Ob dies tatsächlich zutrifft, steht dahin.

In meinen eigenen derartigen Fällen, einer Eier-I. bei einer Mutter und ihren zwei Töchtern von verschiedenen Männern, einer Lauch-I. bei einem Vater und zwei Söhnen, ferner einer Reihe von Geschwister-I., sei es gegen Sauerkraut, Erdbeeren, Preiβelbeeren oder Honig, habe ich indessen stets noch anderweitige Allergien feststellen können, und zwar sowohl bei den Merkmalsträgern selbst als ihren nächsten Blutsverwandten. Damit ist erwiesen, daß diese höchst merkwürdigen familiären Allergien gegen ein und denselben Stoff nicht etwa ganz aus dem Rahmen der allergischen Diathese herausfallen, wennschon dabei noch gewisse sonstige, einstweilen rätselhafte Konstitutionseigentümlichkeiten von ebenfalls dominantem Erbgang entscheidend mitwirken müssen.

    >