Dtsch Med Wochenschr 1927; 53(39): 1632-1634
DOI: 10.1055/s-0028-1126848
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Seelische Veränderungen bei Lungenentzündungen und Grippe

Erich Jacobi - Assistenzarzt
  • Aus der Inneren Abteilung des Krankenhauses Berlin-Lichtenberg. (Direktor: Prof. v. Hösslin.)
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Publication Date:
20 August 2009 (online)

Zusammenfassung

Bei einer größeren Zahl von akuten Lungenkrankheiten, von denen hier nur einige Typen dargestellt wurden, wurde das Verhalten der Psyche untersucht.

I. Bei den kruppösen Lungenentzündungen fanden wir im Wesentlichen 3 Gruppen von Veränderungen:

a) stärkste psychotische Störungen (etwa 40%),

b) Verstärkung des normalen psychischen Verhaltens, fast immer im Sinne einer Apathie (etwa 30%),

c) völliges Unberührtsein (etwa 30%).

Mit Ausnahme von b) fand sich, ein Zusammenhang der Reaktionsart der Psyche mit der zugrundeliegenden Wesensart nicht. Die schwersten Formen entsprechen den schwersten psychischen Veränderungen. Die Veränderungen gehen alle restlos zurück. Amnesie mit inselförmigen Erinnerungen wurde für die Zeit der schwersten Erregungszustände beobachtet.

II. Bei den Grippeerkrankungen fand sich Apathie und Hemmung in den meisten Fällen, wo überhaupt eine Veränderung vorhanden war. (Von allen beobachteten Grippefällen etwa 40%.)

Stärkere Erregungszustände sind sehr selten, im ganzen am häufigsten völliges Unbeteiligtsein. (Letzteres etwa 60%.)

Abhängigkeit von der Normalpsyche des Kranken ist bei den leichtesten Formen der Grippebronchopneumonie und -bronchitis am häufigsten. Hier finden sich stärkste Reaktionen bei geringstem klinischen Befund.

Ein deutlicher, Unterschied zwischen I. und II. zeigt sich also insofern, als Schlafsucht, Hemmung, Wortkargheit, Gleichgültigkeit und Apathie bei der Grippe, selbst bei den unbedeutendsten Formen, weit häufiger vorkommt als bei der kruppösen Pneumonie.

Woher diese Veränderungen kommen, ist nicht restlos zu beantworten. Schmerzen, Fieber, Krankheit lebenswichtiger Organe wird in der Natur allgemein mit der Stillegung des Organs beantwortet. Der Gewebszerfall beim Fieber ist an sich schon so groß, daß überflüssige Tätigkeit vermieden werden muß, soll der Körper den Infekt überwinden. Das Gehirn muß dann nach Möglichkeit jede Tätigkeit einstellen, um unnütze Kraft zu vermeiden. Ist jedoch die Abwehrschranke überschritten, dann kommt es zur Vergiftung des Gehirns, und wir finden dann die oben geschilderten Erregungszustände.

Das Bild der seelischen Veränderungen bei den akuten Lungenerkrankungen ist vielgestaltig, beinahe so vielgestaltig wie die menschliche Seele selbst.

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