Zusammenfassung
Bei der Kranken bestand jahrelang ein schwerer hysterischer Symptomenkomplex, sich
äußernd in gehäuften Anfällen, seelischen Veränderungen und Ausnahmezuständen, Gang-,
Sprach- und Blasenstörungen. Von November 1917 bis März 1922 bestanden die Erscheinungen,
abgesehen von kurzen freien Intervallen, unverändert fort. Sie trotzten jeder Therapie.
Die verschiedensten Maßnahmen zeitigten immer nur vorübergehende Besserungen. Die
Analyse ergab eine gesteigerte sexuelle Erregbarkeit, die zur schwersten Masturbation,
zur Einführung von Fremdkörpern führte. Der Konflikt zwischen Sexualerleben und Selbstvorwürfen
darüber zeitigte die Symptome. Wie weit dabei noch die Symptome auch als eine Ersatzbefriedigung
des Sexualtriebes anzusehen sind, muß dahingestellt bleiben. Die Analyse hatte hier
kein sicher verwertbares Ergebnis. Reales und pseudologisch Ausgesponnenes waren hier
eng miteinander verflochten, sodaß die Angaben der im übrigen sehr wahrheitsliebenden
Kränken keine Beurteilung zuließen. Dieses Moment ist für die vorliegende Frage von
sekundärer Bedeutung.
Bei der Aussichtslosigkeit aller Therapie schlug ich die Kastration vor. Die Kranke
und ihre Angehörigen wurden selbstverständlich auf die möglichen Ausfallserscheinungen
hingewiesen. Beide Teile entschlossen sich bei der Unerträglichkeit des Zustandes
zur operativen Maßnahme. Der Erfolg war prompt. Die Symptome blieben aus. Von sexuellen
Reizerscheinungen wird nichts berichtet. Psychisch ist die Kranke frei. Es bestehen
unerhebliche Ausfallserscheinungen, wie Wallungen und Fettansatz. Daß sexuelle Reizerscheinungen
nicht mehr vorhanden sind, entspricht der gewöhnlichen Erfahrung.
Die Bedeutsamkeit des Falles liegt auf verschiedenen Gebieten: Zunächst erscheint
es sicher, daß, neben der individuellen Disposition, die sexuelle Erregbarkeit und
der durch sie hervorgerufene seelische Konflikt für die Genese der Krankheitssymptome
wesentlich von Bedeutung sind. Man wird der therapeutischen Maßnahme nicht entgegenhalten
können, daß die Suggestion des operativen Eingriffes den Erfolg gezeitigt hat. Hier
ist daran zu erinnern, daß die von Gynäkologen so häufig ausgeführten Maßnahmen, sowie
die früher häufiger vorgekommenen Scheinoperationen, kaum jemals zu einem länger währenden
Erfolge geführt hatten. Im vorliegenden Fall handelt es sich bereits um einen Dauererfolg
von beinahe 2 Jahren. Der Kausalzusammenhang zwischen sexueller Erregung und Symptomenkomplex
wird durch die Tatsache erhärtet, daß erst die Kastration die Beseitigung der Störungen
brachte, während die Röntgenbestrahlung ohne Erfolg blieb. Man wird sich davor hüten
müssen, die Ergebnisse dieses Falles zu verallgemeinern. Er bestätigt aber die Freudsche
Anschauung, daß das hysterische Symptom in mittelbarer oder unmittelbarer Weise eine
Umformung des nicht befriedigten Sexualtriebes darstellen kann. Die Kranke machte
den erfolglosen Versuch, die gesteigerte Sexualempfindung zu bekämpfen, und kam, da
ihr das nicht gelang, zu schweren Selbstvorwürfen, derer sie ebensowenig Herr wurde.
Eine ausgesprochene Verdrängung im Freudschen Sinne liegt nicht vor. Immerhin spielen
sich psychische Vorgänge ab, die der Freudschen „Verdrängung” sehr nahe kommen, da
es sich auch hier teilweise um eine Flucht in das Symptom handelt. Es wurde aber schon
betont, daß auch möglicherweise eine direkte Umformung der sexuellen Erregung in die
Symptome zum Zwecke der sexuellen Beruhigung stattfand.
Beachtenswert ist nun, daß die Aufhellung des Zusammenhanges nicht die erwartete Abreaktion
gebracht hat. Das zeigt uns, daß durchaus nicht immer die Aufdeckung der Zusammenhänge
eine Beseitigung der Symptome zur Folge hat. Das triebhafte Moment war so dominierend,
daß alle psychischen Beeinflussungsversuche erfolglos bleiben mußten. Dieses starke
Hervortreten der Triebkomponente ließ es uns auch berechtigt erscheinen, trotz aller
Bedenken, die Kastration vornehmen zu lassen.
In der Literatur habe ich über einen solchen Eingriff zum Zweck der Beseitigung hysterischer
Symptome nichts finden können. Es wird wohl auch nur in jenen Fällen, in denen das
sexuelle Moment so auffällig wie hier im Vordergrund steht und in denen jede andere
Therapie erfolglos war, in Frage kommen. Immerhin legt dieser Fall die Forderung nahe,
in jedem hartnäckigen Fall von hysterischen Symptomen den sexuellen Faktoren nachzugehen.