Dtsch Med Wochenschr 1920; 46(4): 89-92
DOI: 10.1055/s-0029-1192405
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Die seelisch-nervösen Störungen nach Unfällen

Vorschlag zu einer einheitlichen BegutachtungMartin Reichardt
  • Aus der Psychiatrischen Klinik der Universität in Würzburg
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Publication Date:
14 July 2009 (online)

Zusammenfassung

1. Betriebsunfälle und Eisenbahnunfälle vermögen, soweit lediglich ihre psychische Einwirkung in Betracht kommt und ohne daß organische krankhafte Veränderungen entstehen oder verschlimmert werden, keine langdauernde Erwerbsbeschränkung hervorzurufen. Sie vermögen insbesondere keine langdauernden seelisch-nervösen Krankheiten (Psychoneurosen) zu erzeugen. Nach Unfällen entstehen auf psychisch vermitteltem Wege gegebenenfalls nur Individualreaktionen, welche — abgesehen von der Schreckemotion — eine mehr oder weniger starke psychopathische Veranlagung zur Voraussetzung haben. Die Prognose dieser seelischen Individualreaktionen auf den Unfall selbst ist durchaus günstig. Für die Schreckreaktion, Schreckemotion, psychisch vermittelte Shokwirkung sind entsprechend heftige akute Erscheinungen, namentlich auch auf vegetativem Gebiete, charakteristisch. Auf die Feststellung des Vorhandenseins (der Art und Schwere) oder des Fehlens dieser akuten, namentlich auch der vegetativen, Symptome ist der größte Wert zu legen. Je heftiger die akuten Erscheinungen unmittelbar nach dem Unfälle auftreten, je mehr ein direkt psychotisches Krankheitsbild entsteht, um so länger werden auch gegebenenfalls Unfallsfolgen anzunehmen sein. Die bei weitem meisten Schreckemotionen und Schreckneurosen sind jedoch nach längstens vier Wochen verschwunden. Schreckneurosen von mehr als höchstens halbjähriger Dauer gibt es im Anschluß an die Unfälle des Friedens nicht.

2. Es gibt überhaupt keine echten, jahrelang dauernden traumatischen Neurosen, Unfallneurosen, traumatischen Neurasthenien oder traumatischen Hysterien im strengen Wortsinn. Je länger eine anscheinende oder tatsächlich vorhandene rein funktionelle seelischnervöse Störung nach einem Unfall dauert, um so mehr ist von vornherein zu sagen, daß der Unfall nicht mehr die Ursache derselben sein kann. Dies gilt besonders, wenn die Störung von Anfang an langsam entstanden ist und sich langsam progressiv weiter entwickelt hat und wenn akute, heftige, namentlich auch vegetative Symptome im Sinne einer Shokwirkung von vornherein gefehlt haben. Alle langdauernden psychisch-nervösen Störungen ohne sehr heftige akute Erscheinungen scheiden von vornherein als Unfallsfolge aus. Aber auch bei anfänglich vorhandener Shokwirkung sind länger dauernde seelisch-nervöse Störungen ohne vegetative oder anatomisch nachweisbare Veränderungen meist keine Unfallsfolgen mehr.

3. Bei den im zeitlichen Anschluß an entschädigungspflichtige Unfälle auftretenden seelisch-nervösen Erscheinungen ist nicht nur die psychologische und psychopathologische Analyse von Bedeutung; sondern es ist ganz besonders auch die Frage der Anerkennung als Unfallsfolge eingehend zu erörtern. Wird die langdauernde seelisch-nervöse Störung als Unfallsfolge angesehen, so ist die Begründung hierfür in positiver Weise nach allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erfahrungstatsachen zu geben. Begründungen in dem Sinne: der Verletzte sei früher gesund gewesen, erbliche Belastung sei nicht nachzuweisen, also sei die Störung Unfallsfolge — genügen unter keinen Umständen als Beweisführung für das wirkliche Vorliegen von Unfallsfolgen. Ein sehr großer Teil der früher unbesehen als Unfallsfolge aufgefaßten seelisch-nervösen Störungen hat mit dem Unfalle ursächlich nichts zu tun (Gruppe III). Solche Störungen pflegen sich im zeitlichen Anschluß an den Unfall von vornherein langsam, ohne heftige akute Erscheinungen zu entwickeln (s. oben Nr. 2); sie erhalten jedoch oft ihre Gedankenrichtung oder ihren Gedankeninhalt durch den Unfall. Die große Mehrzahl der sogenannten Unfallneurosen im früheren Sinne sind aber normalpsychologische oder psychopathische Reaktionen auf das Entschädigungsverfahren (Gruppe II). Auch sie können die Eigentümlichkeit der langsamen progressiven Entwicklung haben, während die eigentlichen traumatischen Erkrankungen, auch psychischer Natur (Gruppe I), regressive Störungen sind.

4. Ob die sogenannten Entschädigungsneurosen grundsätzlich überhaupt als Unfallsfolge anzuerkennen sind, dies ist lediglich eine Frage der Rechtsprechung. Die Rechtsprechung der obersten entscheidenden Behörden sollte hier zu einheitlichen Auffassungen gelangen. Der gegenwärtigen psychologischen Auffassung von dem Wesen der sogenannten Entschädigungsneurosen würde es entsprechen, wenn diese individuellen oder psychopathischen Reaktionen auf das Entschädigungsverfahren grundsätzlich nicht als entschädigungspflichtige Unfallfolge zu betrachten wären. Hierdurch würde der Kampf gegen die sogenannten Entschädigungsneurosen am zweckmäßigsten durchgeführt; diese würden am raschesten im Keime erstickt (prophylaktische Behandlung der sogenannten Entschädigungsneurosen; geeignete Erziehung der Psychopathen hierdurch). Freilich sind hierfür bestimmte gesetzliche Vollmachten notwendig. Vom medizinischen Standpunkte aus ist nur ein geringer Teil der sogenannten Entschädigungsneurotiker wirklich erwerbsbeschränkt. Dementsprechend soll die ärztliche Begutachtung auch nicht zu weichherzig sein. Bei der Mehrzahl von ihnen handelt es sich um Suggestionserscheinungen, hypochondrische Vorstellungen, querulatorische Reaktionen, Willensschwäche, hysterische bzw. bewußte Uebertreibungs- und Simulationsvorgänge, die noch mehr oder weniger in das Bereich der Normalspychologie fallen, jedoch nicht zu einer meßbaren Erwerbsbeschränkung führen. Ein gewisser Teil der Personen mit psychopathischen Reaktionen auf das Entschädigungsverfahren darf jedoch vom medizinischen Standpunkte aus bis auf weiteres als „krank” betrachtet werden. Hierher gehören in erster Linie Personen mit stärkeren, andauernden und zweifellos abnormen vegetativen Erscheinungen, nicht nur mit den durch einmaligen Affekt (ärztliche Untersuchung!) hervorgerufenen körperlichen Begleiterscheinungen. Soweit solche als krankhaft anzusehenden Reaktionen auf das Entschädigungsverfahren hysterischer, hypochondrischer, rein suggestiver Natur sind, sind sie einer zwangsweisen ärztlichen (psychotherapeutischen) Behandlung grundsätzlich zugänglich. Die Möglichkeit einer solchen zwangsweisen Behandlung von unbestimmter Zeitdauer bis zur Heilung müßte gesetzlich dann festgelegt werden, wenn die psychopathischen Reaktionen auf das Entschädigungsverfahren als indirekte Unfallsfolgen anerkannt würden. Oder man gibt jedem Psychopathen mit sogenannter Entschädigungshysterie Gelegenheit, sich gesund machen zu lassen, erkennt aber im übrigen die Entschädigungshysterie nicht als Unfallsfolge an, sodaß bei tatsachlich bestehender hochgradiger Arbeitsbeschränkung Invalidenrente gegeben werden müßte.

5. Es ist gegeben notwendig, daß die gesamte Aerztewelt zu grundsätzich einheitllichen Anschauungen auf dem Gebiete der seelisch-nervösen Erscheinungen im Anschluß an entschädigungspflichtige Unfälle gelangt. Die Aerztewelt muß im Kampf gegen die psychopathischen Reaktionen auf das Entschädigungsverfahren einmütig zusammenstehen. Dies ist nicht nur vom therapeutischen Standpunkte aus notwendig, sondern auch im Interesse des Ansehens des ärztlichen Standes und der medizinischen Sachverständigentätigkeit. Es ist künftighin nicht mehr angängig, daß zwei in ihrem Spezialgebiete als hervorragende Vertreter geltende medizinische Sachverständige den gleichen Begutachtungsfall in diametral entgegengesetztem Sinne beurteilen, wie man dies noch heute auf dem Gebiete der reaktiven Erscheinungen im Anschluß an das Entschädigungsverfahren außerordentlich häufig zu sehen Gelegenheit hat. Die Kriegserfahrungen, die außerordentlich große Widerstandsfähigkeit des menschlichen Gehirnes gegen psychisch vermittelte Einwirkungen, die geringe krankmachende Rolle, welche einmalige psychisch vermittelte Einwirkungen im Sinne von Unfällen oder als Begleiterscheinungen von Unfällen überhaupt spielen, zeigen den Weg, auf welchem eine geeignete Auffassung dieser „sozialen Neurosen” möglich und durchführbar ist.

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