Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2009; 4(4): 229-248
DOI: 10.1055/s-0029-1214946
Beckengürtel und untere Extremität

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Aktuelle Behandlungsstrategien nach Azetabulumfrakturen

U.  Culemann1 , G.  Tosounidis1 , T.  Pohlemann1
  • 1Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätskliniken des Saarlandes
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. August 2009 (online)

Das Azetabulum hat durch seine anatomische Konstruktion (zusammengesetzt aus Darm-, Scham- und Sitzbein) eine wichtige biomechanische Bedeutung als direkter Lastüberträger von der Wirbelsäule auf beide Beine und als Mobilitätsgarant des Patienten. Frakturen im Azetabulum entstehen zumeist durch indirekte Frakturmechanismen mit Energieeinleitung über das Femur (hintere Wandfrakturen z. B. durch eine sitzende Position zum Unfallzeitpunkt, „dash-board-injury”). Selten treten direkte Mechanismen auf, dann in Verbindung mit erheblicher Weichteilschädigung oder offenen Frakturen. In der Regel handelt es sich um Hochenergieverletzungen. Aufgrund der demografischen Entwicklung mit zunehmendem Alter der Patienten kommt es immer häufiger auch durch Niedrigenergietraumata (z. B. häuslicher Sturz) zu Azetabulumfrakturen.

Zur Klassifikation hat sich für den klinischen Gebrauch die Einteilung nach Letournel in 5 einfache und 5 zusammengesetzte Frakturtypen etabliert. Diese ist für die Wahl der Therapie von entscheidender Bedeutung.

Frakturen des Azetabulums galten lange Zeit nur als konservativ erfolgreich therapierbar, insbesondere oder gerade in höherem Lebensalter. Durch Arbeiten von Judet u. Letournel mit stetiger Verbesserung der systematisierten Röntgenanalyse und der daraus abgeleiteten Klassifikationen und Therapiemöglichkeiten konnte sich die operative Behandlung der Azetabulumfraktur mehr und mehr durchsetzen. Hierfür wurden 2 gebräuchliche Standardzugänge (Kocher-Langenbeck und ilioinguinaler Zugang) entwickelt, welche auch heute Anwendung finden und in über 90 % der Frakturtypen zu einer anatomischen Rekonstruktion des Azetabulums genutzt werden können. Sonderfällen und Problemsituationen (verspätet rekonstruierbare Frakturen, T-Frakturen) vorbehalten sind die sog. erweiterten Zugänge (z. B. „erweiterter iliofemoraler Zugang”), deren Bedeutung aber in den letzten Jahren aufgrund zahlreicher Komplikationsmöglichkeiten deutlich rückläufig ist.

Eine primäre oder sekundäre Gelenkkongruenz oder eine minimale Dislokation bei radiologisch sichtbarer Fraktur stellt auch heute noch in über 50 % der Fälle eine Indikation zum konservativen Vorgehen dar. Insbesondere bei geriatrischem Patientengut hängt die Therapiewahl auch von der Komorbidität und weiteren Begleitumständen ab. Die konservative Therapie beinhaltet neben der initialen Immobilisation mit allen Begleiterscheinungen (Thromboserisiko erhöht, Atrophie der Muskulatur, ggf. notwendige Extensionsbehandlung) auch die körperliche und mentale Umsetzung der notwendigen Teilbelastung über einen Zeitraum von 8 – 12 Wochen.

Eine Inkongruenz im Gelenk führt am Azetabulum aufgrund der hohen Belastung zu einem deutlich schnelleren Gelenkverschleiß. Bei fehlenden Kontraindikationen stellt daher die operative Rekonstruktion einer dislozierten azetabulären Gelenkfläche die einzig sichere Möglichkeit der anatomischen Wiederherstellung dar. Die Wiederherstellung der Gelenkkongruenz ist dabei der einzige bekannte Langzeitschutz vor vorzeitig einsetzender Arthrose.

Weiterentwicklungen der Azetabulumchirurgie werden derzeit weniger durch Veränderungen der operativen Technik oder der Zugänge beeinflusst, sondern vielmehr durch Fortschritte in der bildgebenden Diagnostik. Insbesondere in der computertomografischen Darstellung des Azetabulums zeigen sich in den letzten Jahren zunehmend Fortschritte. Die präoperativ entscheidende Festlegung auf den operativen Zugang mit den entsprechenden Beschränkungen, entweder über den vorderen Zugang nicht genug von der hinteren Pfeilerfraktur reponieren zu können oder über den hinteren Zugang nicht die vordere Pfeilerfraktur ausreichend zu kontrollieren, und die Schwierigkeiten der dreidimensionalen Umsetzung des Frakturverlaufs führten zu einem hohen Bedarf ausgefeilter computertomografischer Frakturrekonstruktionen in 2-D- und 3-D-Bildgebung. Durch die Subtraktion des Hüftkopfs ist ein exzellenter Überblick über die hufeisenförmige Gelenkfläche des Azetabulums möglich. Gelegentlich sind trotz aller Probleme zur vollständigen Reposition kombinierte Zugänge notwendig. Um die hierfür notwendige Indikation korrekt stellen zu können, ist ebenfalls die Bildgebung von entscheidender Bedeutung.

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Priv.-Doz. Dr. med. Ulf Culemann

Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie
Universitätskliniken des Saarlandes

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Telefon: 06841/1631506

Fax: 06841/1631507

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