Der Klinikarzt 2009; 38(3): 109
DOI: 10.1055/s-0029-1220657
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wann ist ein Mensch alt und welche Auswirkungen hat das Altern auf entstehende Krankheiten?

Adolf Grünert
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Publication Date:
31 March 2009 (online)

Die meisten Menschen wollen gesund und lebenswürdig alt werden. Sehr viel geringere Akzeptanz findet dagegen das Altsein und das Altern selbst. Dabei unterliegt jedes biologische System, also auch der Mensch, den Prozessen der Alterung, die mit der Geburt beginnen und mit dem Tod enden.

Der Alterungsprozess muss nicht als ein Prozess des biologischen Abbaus, der Verwirrtheit und mit geistigem Zerfall gleichgesetzt und beschrieben werden, sondern kann – wie im indogermanischen Wortstamm erkennbar, bei dem alt von „al” abgeleitet wachsen und reifen bedeutet – als Wachstums– und Reifungsprozess aufgefasst werden. Dieser Zugang wird durch die hoch entwickelten Methoden und Möglichkeiten der modernen Medizin beflügelt, die defekte Organe und Gelenke unseres alternden Körpers ersetzen und so die gelebte Lebensspanne mit körperlichen, geistigen und kulturellen Aktivitäten verlängert. Diese Ersatzmedizin und Erneuerungsverfahren bestehen allerdings nicht für unsere auch das gefühlte Leben bestimmende Schaltzentrale des Gehirns.

Die speziesspezifische maximale Lebensspanne scheint sich über Generationen hinweg nicht verändert zu haben. Die Diskrepanz zwischen der heutigen durchschnittlichen Lebenserwartung eines Menschen von 75–80 Jahren ist doch imponierend, verglichen mit der maximalen Lebenspanne eines Menschen von etwa 120 Jahren.

Biologische Funktionen werden heute als die Folge molekularer Prozesse in den einzelnen Zellen lebender biologischer Systeme verstanden. Intensive Forschungen konzentrieren sich daher auf die physiologischen Abläufe und Veränderungen einzelner Lebensprozesse in einer Zelle, um so verstehen zu können, was es bedeutet, dass eine Zelle altert und wie diese komplexen Abläufe kontrolliert und beeinflusst werden können. Der Traum von einem ewigen Jungbrunnen durch die Korrekturen und Kompensationen der Alterungsprozesse wird allerdings eine Science–Fiction bleiben, auch wenn die neueren Erkenntnisse über die Vorgänge des Alterns in der Zelle faszinierend und vielfältig sind.

Das Leben spielt sich in hochdynamischen zeitlich sehr unterschiedlichen Phasen ab, da die zeitbegrenzten Lebensdauern einzelner Zellen unter den etwa 200 verschiedenen Zelltypen der unvorstellbaren Zahl von 1013–1014 Körperzellen einen ständigen Ersatz von Zellen der Organe durch die multipotenten in allen Organen vorhandenen undifferenzierten Stammzellen erforderlich macht. Diese Stammzellen, die für die Regeneration defekter Gewebe und Zellen verantwortlich sind, haben aber ein begrenztes Teilungspotenzial von etwa 40–50 Teilungen, welches schon vor 50 Jahren von Leonard Hayflick erkannt wurde und später daher als Hayflick–Limit definiert wurde.

Mit der Beendigung der Teilungsfähigkeit, die mit vielen Faktoren in Zusammenhang gebracht wird – z. B. Verkürzungen der chromosomalen Telomere durch Veränderungen der Telomerase – gehen auch die Stammzellen in einen Ruhezustand ohne Teilung über und werden in einem sogenannten programmierten Abbauprogramm der Apoptose „entsorgt”. Längst hat sich der Begriff der molekularen Medizin etabliert, obwohl sie sich auf ihren DNS–Genom–basierten Arbeitsfeldern gerade nicht mit molekularen Strukturen sondern Teilabschnitten von Riesenmolekülen beschäftigt.

Da der Alterungsprozess auf zellulärer und molekularer Ebene abläuft und jede Zelle die identischen genetischen Informationen enthält, wird konsequenterweise unser gesamter Organismus von diesen Prozessen bestimmt. Die alterungsbedingten Veränderungen beeinflussen daher gleichzeitig den gesamten Organismus, was zu einer völlig neuen Krankheitsstrategie führt und mit Multimorbidität Erkrankungen zusammenfasst, die im Gegensatz zu einer kausalen Einzelerkrankung im Laufe des Lebens Erkrankungen einschließt wie die demenziellen Syndrome, Arthrosen, Herzinfarkt, Gefäßveränderungen mit Hypertonien, oder den Altersdiabetes, rheumatische Erkrankungen und Krebs.

Die Physiologie des Alterns endet mit fortschreitender Lebenserwartung in der Pathophysiologie der Alterungsprozesse des Menschen mit einer neuen Profilierung seiner Krankheiten, für die wir bei allen einleuchtenden Erkenntnissen der Lebenswissenschaften keinerlei Methoden oder diagnostische Strategien besitzen, zwischen Krankheit und Alter zu unterscheiden.

Bedenkt man, dass schon bei der heutigen Lebenserwartung eine Frau mehr als 40? % Ihrer Lebenszeit im postmenopausalen, östrogenrestriktierten Zustand verbringt, erkennt man, dass eine Einstellung auf diese – gegenüber dem traditionellen Lebensplan komplett geänderte – Lebensbefindlichkeit neue Lebensformen erzwingen wird.

Der wiederholt beschriebene demografische Wandel wird sich aber nicht nur in neuen Bevölkerungspopulationen darstellen und neue finanzpolitische Lösungen bei Strukturen der Krankenversicherung und der Rentenpolitik erfordern. Der gesamte medizinische Bereich wird ein völlig neues Anforderungsprofil für die Qualifikation und damit die Aus–, Fort– und Weiterbildung der Ärzte erzwingen, für die bis heute weder die entsprechenden Zielvorgaben formuliert noch die Curricula erarbeitet worden sind.

Prof. Dr. mult. Adolf Grünert

Ulm

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