PiD - Psychotherapie im Dialog 2009; 10(3): 276-284
DOI: 10.1055/s-0029-1223329
Im Dialog

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Sie sind der Erste, bei dem aufgefallen ist, dass er länger ausfiel!”

H.-Ulrich  Wilms
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Publication Date:
04 September 2009 (online)

Die folgende Fallgeschichte befasst sich mit der ambulanten verhaltenstherapeutischen Behandlung eines Gerichtsvollziehers: Passend zum Thema geht es um ein berufliches Belastungssyndrom. Um den Verlauf von Beginn der Behandlung an auch für Kollegen und Kolleginnen anderer Therapieschulen transparent zu machen, stellen wir Ihnen, liebe Leser, den kompletten Antragstext mit anschließendem Therapieverlauf zur Verfügung.

Einige Herausgeber haben ihre Ideen zu diesem Fall aus der Praxis am Ende formuliert: Wenn unsere Leser und Leserinnen dies als Einladung zu weiteren Kommentaren verstehen, würde uns das sehr freuen.

Literatur

  • 1 Beck A T, Rush A J, Shaw B F. et al .Kognitive Therapie der Depression. Weinheim; Beltz TB 1999
  • 2 Burisch M. Das Burnout-Syndrom. 3. Aufl. Berlin; Springer 2006
  • 3 Hautzinger M. Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen. In: Hautzinger M, Hrsg Kognitive Verhaltenstherapie bei psychischen Störungen. 6. Aufl. Weinheim; Beltz, PVU 2003
  • 4 Hinsch R, Pfingsten U. Gruppentraining sozialer Kompetenzen (GSK). Weinheim; Beltz, PVU 1998
  • 5 Kanfer F H, Reinecker H, Schmelzer D. Selbstmanagement-Therapie. Berlin; Springer 1996
  • 6 Kellmann M, Kallus K W. Mood, Recovery-Stress State, and Regeneration. In: Lehmann M, Foster C, Gastmann U, Keizer H, Steinacker JM, Hrsg Overload, Fatigue, Performance Incompetence, and Regeneration in Sport. New York; Plenum 1999: 101-117
  • 7 Seiwert L J. Mehr Zeit für das Wesentliche. 7. Aufl. Landsberg am Lech; MVG 2001
  • 8 Smith M J. Sage ,Nein‘ ohne Skrupel. Landsberg am Lech; MVG 1999
  • 9 Wilms H-U, Wittmund B, Mory C. Ein bisschen Angst hat schließlich jeder. Ein Erfahrungsbuch für Betroffene und Angehörige. Dortmund; Borgmann, Verlag Modernes Lernen 2004

1 Dabei war hilfreich, dass der Therapeut eine sportpsychologische Weiterbildung an der Universität Köln absolviert hatte und auch praktisch mit Leistungssportlern am Olympiastützpunkt Halle / Magdeburg arbeitet.

Kommentare

Verhaltenstherapeutische Perspektive

Insgesamt ein sehr schönes Beispiel einer durchdachten verhaltenstherapeutischen Arbeit, die mit begrenztem Fokus in relativ wenigen Sitzungen einen maximalen Therapieerfolg erzielt. Die umfangreiche biografische Verhaltensanalyse widerlegt auch das Vorurteil, die VT würde sich um die Entstehungsbedingungen weniger Gedanken machen. Die individuell festgelegten Therapieziele sowie der praktische Behandlungsplan machen die Zielgerichtetheit des Vorgehens deutlich, der Therapieverlauf zeigt, wie wichtig Selbstwirksamkeitsüberzeugungen für den Erfolg einer Burnout-Therapie sind.

Was hätte ich möglicherweise anders akzentuiert? Dies ist sicherlich z. T. stilabhängig und stellt keine Kritik an dem gelungenen Fallbeispiel dar. Vielleicht hätte ich die Ehefrau konsequent in die Therapie mit einbezogen, um möglicherweise parallel zum Abbau der burnout-verursachenden Bedingungen einen Aufbau von positiven Gegengewichten zu schaffen. Die äußerst kooperative Grundhaltung des Patienten hätte mich vielleicht auch etwas skeptisch gemacht – ist dies ja auch eine Eigenschaft, die ihn in die Schwierigkeiten gebracht hat, vor denen er kapitulieren musste. Möglicherweise hätte ich mich auch bei einigen Emotionen wie Wut und Ärger länger aufgehalten, um diese deutlicher spüren zu lassen und deren Berechtigung zu unterstreichen, bevor ich zur Ärgerregulation übergegangen wäre.

Wie gesagt – eher Randnotizen an einem äußerst gelungenem Fall.

Michael Broda

Psychodynamische Perspektive

Es ist nicht ganz so einfach, aus einer stringent verhaltenstherapeutischen Kasuistik psychodynamische Aspekte herauszuarbeiten, vor allem wenn man den Patienten nicht selbst gesehen hat. In diesem Fall würde ich den „psychodynamischen Blick”, der ein anderer ist als der verhaltentherapeutische, auf die Entwicklung der narzisstischen Regulation bei dem Patienten richten. Hier scheint er ein erhebliches Problem zu haben. Das zeigt sich schon in der Symptomatik, in den Gedanken, die ihn plagen („… ich schaffe das nicht mehr … ich kann nicht mehr … alles lastet auf mir”) und andererseits immer wieder antreiben („… ich muss das Tempo halten, sonst bekomme ich zusätzlichen Ärger”).

Diese Problematik offenbart sich auch in der Beziehung, die in dem Fallbericht beschrieben wird: „Er ist – auf dem Hintergrund seiner biografischen Entwicklung – extrem leistungsorientiert, verzeiht sich keine Fehler oder Verzögerungen in Bezug auf die Arbeit und imponiert durch ein extrem stark ausgeprägtes Perfektionismusstreben. Gleichermaßen wirkt er sehr stark abhängig von externer Anerkennung und Fremdverstärkung; sein Selbstverstärkungspotenzial ist eher gering ausgeprägt. Neben dem Harmoniebedürfnis (,von allen Personen geliebt oder anerkannt werden‘, ,es anderen recht machen wollen‘) ist auch das Unabhängigkeitsstreben sehr stark ausgeprägt.”

Er hat, einfach gesagt, nur wenig Selbstwert und Selbstbewusstsein und ist dabei von der narzisstischen Zufuhr durch andere abhängig.

Der „psychodynamische Blick” ist ein Blick auf den inneren Niederschlag der biografischen Entwicklung, näher gesagt, auf die aus den biografischen Bedingungen resultierenden innerpsychischen Konflikte, die zu dysfunktionalem Erleben und Verhalten oder halt zu Symptomen führen. In diesem Fall wird eine starke Mutter beschrieben, die zwar als lieb und zuverlässig bezeichnet wird, aber auch als „ehrgeizig … sie stelle jedoch heute noch hohe Anforderungen an die Kinder und versuche, Kontrolle auch über die erwachsenen Kinder zu behalten und Einfluss auf deren Leben zu nehmen.” Der Vater erscheint dagegen als eher schwach, kann offenbar kein Gegengewicht schaffen.

Die „Leistungsziele … bedingt durch die sehr ehrgeizige Mutter” sind von dem Patienten als beständige innere Forderungen und Ideale verinnerlicht und bestimmen das (dem Patienten unbewusste) innere Maß für die eigenen narzisstischen Erwartungen an sich selbst. Das kann man vereinfacht auf die Formel bringen: Ich bin nur wertvoll und werde geliebt, wenn ich diese hohen Leistungen erbringe; d. h. im psychodynamischen Sinne: Nur dann kann er sich der Anerkennung und Liebe der Mutter sicher sein – wo es ja wohl auch noch den Konkurrenten „Bruder” um die Mutter gab, was dem Patienten nicht bewusst ist.

Die Erfüllung dieser inneren Erwartungen ging offenbar ja auch eine Weile gut, bis, wie in dem Bericht geschrieben steht,Folgendes passierte: „Die Beendigung der Sportkarriere erfolgte wegen ,fehlender Entwicklungspotenziale‘ trotz bestehender sehr guter nationaler Leistungen und der damit verbundene Wechsel an ein ,normales Gymnasium‘ (1977) wurde als ,Katastrophe‘ erlebt. Obwohl zu dieser Zeit sein Bruder mit dem Leistungssport begann und die Eltern weniger Zeit für ihn hatten, ,bin ich nie auf die Idee gekommen alles hinzuschmeißen‘. Neben dem Verlust der Freundin und des gesamten Freundeskreises wurde vor allem der Umstand als nachhaltig belastend erlebt, dass er erstmals in der Schule nicht mehr zurechtkam. Vor allem das Nichtanerkennen der reduzierten Leistungsanforderungen in seiner bisherigen schulischen Laufbahn erlebte er als ,niederschmetternd‘ (,Ich habe immer gemacht, was man von mir verlangt hat … und dann wurde ich dafür noch bestraft‘). Das Abitur bestand er mit einem für ihn ,grottenschlechten‘ Notendurchschnitt von 2,8.”

Er kann sich einfach keine ausreichende Anerkennung sichern. Eine solche Dynamik findet sich auch in der Arbeitssituation, wofür in dem Bericht „eine Verquickung von extremer Leistungsbereitschaft in Verbindung mit grundsätzlich hoher Loyalität dem ,virtuellen‘ staatlichen Arbeitgeber gegenüber gesehen wird, der dem Patienten durch seine Beschäftigung so viel an Anerkennungs- und Rehabilitationsgefühl vermittelte, dass es einen Ausgleich zur vorherigen, als ungerechtfertigt erlebten Kündigung darstellte”.

Aber: „Auf der anderen Seite wurden die tatsächlichen, weit überdurchschnittlichen Leistungen vom direkten, ,realen‘ Vorgesetzten einfach – ohne Lob oder Anerkennung – hingenommen und lediglich dazu benutzt, die ,Messlatte der Erwartungen immer höher zu hängen‘. Er habe sich zunächst zwar immer wieder antreiben lassen (,… habe die Vorgaben immer erfüllt und übererfüllt …‘). hatte immer die beste Statistik, aber das hat nur dazu geführt, dass die Vorgaben erhöht wurden.”

Abgeleitet aus der oben entwickelten Psychodynamik geht es hier nicht nur um die äußeren Forderungen, sondern sie treffen auf die inneren Forderungen, auf diesem Hintergrund wird „die Kerze von beiden Seiten angezündet” und damit gleichermaßen auch durch den Patienten selbst, durch seinen inneren Konflikt angezündet. Es ist in dem Bericht richtig gesagt: „Die hohe Leistungsbereitschaft und ständig höher geschraubten Erwartungen des Arbeitgebers gehen danach nicht mit positiver externer Verstärkung einher”, psychodynamisch gesehen aber auch deswegen, weil diese ständig höher geschraubten Erwartungen auch in erheblicher Weise aus dem Inneren des Patienten kommen – stellt es doch seinen Konflikt dar, eben den Forderungen der (inneren) Mutter nicht genügen zu können – oder nicht genügen zu wollen! Bildlich gesprochen entspricht dieser Zustand dem eines Esels, der sich selbst an einem Stock eine Möhre vor die Nase hält, die er nie erreichen kann. Die stetige Erhöhung der Anstrengungen führt dann zwangsläufig zu der depressiven Erschöpfung, da das Ziel eben nicht erreicht werden kann oder nicht erreicht werden darf. „Nicht darf” könnte heißen, dass es sich psychodynamisch gesehen auch um eine unbewusste ständige Abwehr oder Aggression gegen die Mutter handelt, aber das ist aus dem VT-Bericht nicht stringent abzuleiten.

Das wäre eine psychodynamische Sichtweise, die jetzt nicht weiter vertieft werden soll, da das, ohne den Patienten selbst untersucht zu haben, spekulativ würde. Therapeutisch würde man weniger an dem Verhalten arbeiten, sondern auf diese inneren Konflikte fokussieren und gegebenenfalls versuchen, in der Übertragung zu bearbeiten. Eine solche hat sich in der Interaktionsbeschreibung in dem Bericht ja schon angedeutet.

Wolfgang Senf

Zu guter Letzt und zur weiteren Diskussion gedacht

Eine systemische Perspektive auf diese Behandlung macht insbesondere im Verlauf einen Aspekt ausgesprochen deutlich: Auch Interventionen mit Einzelpersonen haben systemische Effekte! Wie anders kann der Satz, der für den Titel dieses Beitrages gewählt wurde, verstanden werden, wenn nicht so, dass der Vorgesetzte erstmals einen veränderten Blick auf das Arbeitsvolumen seiner Mitarbeiter entwickeln konnte, – und zwar ohne, dass er in diesem Fall an einem spezifischen Coaching für Führungskräfte teilgenommen hatte. Auch die Entwicklung von Solidarisierungsaktivitäten innerhalb der Berufsgruppe ist hierfür ein gutes Beispiel. Gleichermaßen zeigen gerade diese Selbsthilfebemühungen, dass berufliche Belastungssyndrome eben nicht nur individualisiert zu betrachten sind – weder in der Genese noch in Behandlung oder Verlauf.

Was hätte ein systemischer Therapeut anders gemacht? Vielleicht hätte eine systemisch ausgebildete Therapeutin dem Patienten den Vorschlag gemacht, ihn gegebenenfalls auch in die Dienststelle zu begleiten und Gespräche mit dem Vorgesetzten zu moderieren (und das Thema somit auch explizit in die betriebsinterne Kommunikation zu tragen). Dies sind Interventionen, die in der deutschen Versorgungsstruktur noch sehr ungewöhnlich klingen und bei manch Einem auch Sorgen bezüglich des Schutzes der Schweigepflicht hervorrufen. In Fällen, wo dies von Betroffenen gewünscht wird, sollten Therapeuten sich aus unserer Sicht aber offen zeigen, auch ungewöhnlich anmutende Schritte in der Unterstützung ihrer Klienten zu gehen, denn wie schon an anderer Stelle in diesem Heft deutlich wurde: Arbeit ist oft mehr als das halbe Leben.

Maria Borcsa und Bettina Wilms

P. S. Bitte lesen Sie auch die auf das Fallbeispiel bezogene Zusammenfassung des Artikels von Andreas Bergknapp, S. 243.

Dr. H.-Ulrich Wilms

Querstraße 25

04103 Leipzig

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