PiD - Psychotherapie im Dialog 2009; 10(3): 266-267
DOI: 10.1055/s-0029-1223330
Résumé

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

… und alle Fragen offen?

Maria  Borcsa, Bettina  Wilms
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Publication Date:
04 September 2009 (online)

Wozu könnte ein Résumé am Ende dieses Heftes dienen? Sollte es zusammenfassen? Wiederholen? Dank sagen? Wohl all dies und vielleicht noch etwas anderes …

Unser Dank gilt zunächst den Autoren und Interviewpartnern und dem im Fallbericht beschriebenen Patienten, die jede und jeder auf ihre Weise zu der Vielfalt dieses Heftes beigetragen haben. Doch zum Schluss möchten wir Ihnen auch einige Fragen zum Weiterdenken mit auf den Weg geben.

Erste Fragen könnten wie folgt lauten:

Welche Bedingungen müssen vorliegen, dass ein Phänomen, dem der Name „Burnout” zugefallen ist, Eingang in gesellschaftliche, gesundheitspolitische und psychotherapeutische Diskurse findet? (… oder sucht / e sich da ein sprachliches Konstrukt seinen Gegenstand?) Welche Möglichkeiten eröffnen diese Diskurse (und welche verschließen sie)?

Zur Orientierung hier einige Hypothesen, die für uns durch die Beiträge dieses Heftes Bedeutung erlangt haben.

Hypothese 1: Burnout ist ein Sozialisations- und Interaktionsmuster

Menschliche Entwicklung findet zunächst bekannterweise in primären (z. B. Familie) und sekundären Sozialisierungsinstanzen (z. B. Schule, berufliche Institutionen) statt. Nehmen wir mal an, nahe Bindungen werden durch einen Leistungsimperativ gebrochen und erst durch diesen zu einer Beziehung der Anerkennung gemacht: Wertschätzung erfolgt als Konsequenz auf Verhaltensweisen, die unter die Normierung „Leistung erbracht zu haben” gestellt werden. Diese Normierung kann natürlich als Erziehungsparadigma verstanden werden, als Vorbereitung auf eine Welt, in der tatsächlich oder vermeintlich nur die „Fittesten” überleben. Denn lassen wir uns mal auf ein Gedankenexperiment ein: (Wie) wäre das Phänomen Burnout in einer archaisch strukturierten Gesellschaftsform zu denken? Was wäre ähnlich, was vollständig anders?

Hypothese 2: Burnout ist ein Symptom einer (post-)industriellen Gesellschaft

Geht man davon aus, dass ein Symptom stets auch eine Funktion erfüllt, so könnte man meinen, dass uns die Patienten und Klienten mit entsprechender Symptomatik auf dysfunktionale Muster einer Systemebene verweisen. Denn anthropologisch betrachtet ist der Mensch ein tätiges Wesen (Arendt 1960), das durch sein Werk selbst genügend Gratifikation erfährt, um psychisch gesund zu bleiben. Ohne hier auf politische Theorien der Entfremdung Bezug nehmen zu wollen, bleibt doch nach Lektüre der Texte dieses Heftes die Empfindung, dass es den betroffenen Menschen an etwas mangelt. Unübersichtlich und vieldeutig ist unsere Dienstleistungsgesellschaft allemal, denn was kann letzten Endes als „Werk” all dieser (beruflichen) Anstrengungen betrachtet werden? Und welche Rolle spielt dabei der sogenannte „Werteverfall”, das Abhandenkommen anderer Leitlinien wie beispielsweise Solidarität, Respekt etc.?

Hypothese 3: Die Rolle der Psychotherapie ist eher die der Wiederherstellung von Funktionen Einzelner, um diesen zu ermöglichen, weiter in den bestehenden Bedingungen zu überleben. Sie ist demnach nicht emanzipatorisch und / oder politisch

Solange Gesundheit (auch) als Arbeitsfähigkeit definiert wird, stellt sich die Frage, für wen oder was diese (wieder-)hergestellt werden soll? Welche Handlungsspielräume sollen erschlossen werden; inwiefern werden die Menschen „fit” gemacht, um auf ihre bestehenden Bedingungen selbst Einfluss auszuüben? Oder geht es lediglich um Re-Integration in herrschende Verhältnisse?

Hypothese 4: Burnout ist ein Diskurs

Neue Wortschöpfungen sind dahingehend schillernd, dass sie häufig (zumeist als „Werk” von Menschen) in die Welt kommen, damit bestimmte Phänomene dingfest gemacht werden können: Neue Realitäten werden entdeckt, manche sagen: erfunden und beschrieben, zumeist in Texten. Gleichzeitig ist damit ein sprachliches Schema in der Welt, welches ab sofort als Kategorisierungsraster funktioniert (und den Laien wie Experten beruhigt, da den Phänomenen Namen zu geben bekannterweise Menschen schon in ihren Höhlen beruhigt hat).

Doch: Ist die Inflationierung des Burnout-Begriffs ein Verweis auf die Bildung einer „Subkultur” als eine neue (virtuelle?) Gemeinschaft, da sie aus der üblichen, leistungsorientierten In-Group durch bestimmte Prozessmerkmale ausgeschlossen wird bzw. sich selbst ausschließt? War man noch kürzlich antiautoritär und ist heute ausgebrannt? Das wäre ein hoher Preis, um sozialisierte Selbstdisziplinierungen loszuwerden und ohne Frage eine äußerst paradoxe Form der Selbstbestimmung (Foucault 1975).

Aber vielleicht ist das alles auch ganz anders (Sparrer u. Varga v. Kibéd 2000) … In jedem Fall wäre das Anliegen dieses Heftes erreicht, wenn Sie sich am Ende einer Fülle von Artikeln über Burnout bewegt und eingeladen fühlen, mit uns als Herausgeberinnen und Autoren oder Kollegen, Freunden oder Verwandten in einen Dialog darüber einzutreten, wozu Burnout eigentlich gut ist und was wir erfinden müssten, wenn wir diesen Begriff nicht hätten.

Literatur

  • 1 Arendt H. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München; Pieper 1960
  • 2 Foucault M. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt; Suhrkamp 1975
  • 3 Sparrer I, Varga v. Kibéd M. Ganz im Gegenteil. Heidelberg; Carl-Auer-Systeme Verlag 2000
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