PiD - Psychotherapie im Dialog 2009; 10(3): 258-262
DOI: 10.1055/s-0029-1223333
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Psychotherapeuten sollten den Beruf im Blick haben”

Andreas  Weber im Gespräch mit Bettina  Wilms
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Publication Date:
04 September 2009 (online)

PiD: Sie sind Arbeitsmediziner; bei diesem Begriff assoziieren viele Menschen etwas mit Schadstoffen, Betriebssicherheit … Was hat Sie zum Thema „Burnout” gebracht?

Andreas Weber: Ja, diese Assoziationen sind auch über weite Strecken richtig. Die deutsche Arbeitsmedizin ist seit den 60er-Jahren geprägt durch die Beschäftigung mit toxikologisch relevanten Gefahrenstoffen, bestenfalls noch mit biologischen Gefahrstoffen und sehr stark mit Regelwerkfragen behaftet. Das liegt u. a. daran, dass wir unter Federführung der gesetzlichen Unfallversicherung eine weltweit vorbildliche, sehr gute Arbeitsschutzgesetzgebung haben. Wir haben einen sehr guten Standard in der Verhinderung von Arbeitsunfällen, das ist wirklich gut. Aber insbesondere die akademische, wissenschaftliche Arbeitsmedizin hat in den folgenden Jahren dann, so würde ich das heute sehen, viele Entwicklungen „verschlafen” oder nicht wahrhaben wollen. Im Wandel von Gesellschaftssystemen und Arbeitswelt, der spätestens seit der Wiedervereinigung eingesetzt hat, mit der Hinwendung zum „Finanzkapitalismus” und dem absoluten Primat der Ökonomie in allen Lebensbereichen oder wie immer man das nennen mag, hat die Arbeitsmedizin sich nicht an die Spitze bestimmter Entwicklungen gestellt. Da hat sie das Feld der weichen Faktoren, der psychosozialen Belastungen (z. B. Stress, Burnout, Mobbing, Leistungsdruck, Mobilität) und der psychosozialen Gesundheit im Beruf anderen überlassen, bevorzugt Nichtmedizinern. Das war in meinen Augen falsch. Gesundheit im Beruf ist natürlich ein interdisziplinäres Fach: Gesundheit im Beruf kann heute nicht mehr eine Disziplin praktisch als Leitkultur abhandeln, auf der anderen Seite gehört meiner Meinung nach zu Gesundheit im Beruf unbedingt ein Arbeitsmediziner mit an Bord.

Also so viel zum allgemeinen Hintergrund, und ich persönlich bin zu dem Thema „psycho-soziale Einflussfaktoren und Gesundheit” gekommen durch die Beschäftigung mit kranken Lehrern. Wir haben in den 90er-Jahren, damals war ich noch Assistent im Erlanger Hochschulinstitut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, erstmalig in der Bundesrepublik, in Bayern eine Totalerhebung gemacht zu krankheitsbedingtem vorzeitigen Ausscheiden der Lehrkräfte aus dem Beruf und haben dabei Lehrer in allen Schulformen Bayerns erfasst (die Lehrer sind in Bayern zu 98 % verbeamtet, anders als in den neuen Bundesländern, wo es genau andersrum ist, da sind fast alle als Angestellte tätig). Wir haben uns praktisch die „Endstrecke” einer Krankenkarriere angeschaut und jeden, der krankheitsbedingt (wegen vorzeitiger Dienstunfähigkeit) in Pension gehen wollte, im Rahmen dieser Untersuchung erfasst. Eine amtsärztliche Untersuchung ist Pflicht, bevor man in Pension gehen kann. Dabei fiel auf, dass da nur 5 % bis zum 65. Lebensjahr durchhielten.

Verdammt wenig …

Ja, das war gewissermaßen „sensationell” und wir haben eben alle befragt, die einen Antrag auf gesundheitsbedingte Frührente oder Frühpensionierung gestellt haben, und haben die gesundheitlichen Umstände evaluiert. Es fiel auf, dass die psychosomatischen und depressiven Erkrankungen oder auch dieses „Burnout-Syndrom”, das Spektrum dominierten. Also über 50 % gingen mit einer Hauptdiagnose aus der „F”-Gruppe aus dem Schuldienst. Und – die sind auch nicht mehr wiedergekommen. Also, eine Reaktivierung oder Reintegration fand so gut wie nicht statt. Das hat sich dann ein bisschen geändert, weil der Gesetzgeber Gesetzesänderungen gemacht hat, Abschlagszahlungen und so weiter und so fort, sodass viele sich das nicht mehr leisten konnten. Das heißt aber nicht, dass die gesünder geworden sind. Die „fummeln” sich jetzt so durch, „feiern” immer mal wieder krank, aber scheiden nicht aus dem Beruf aus.

Ja, das war so der Anfang und dann kam die allgemeine öffentliche Diskussion Ende der 90er-Jahre, wobei auffiel, dass die Arbeitsunfähigkeitstage in diversen Branchen bei verschiedenen Krankenkassen aufgrund psychischer Erkrankungen immer mehr zunahmen. Dabei habe ich immer Wert gelegt auf die Feststellung, dass es wirklich nur die Arbeitsunfähigkeitstage sind und wir nicht etwa sagen können, dass die psychiatrische Morbidität zugenommen hat, weil es keine Längsschnitterhebung dazu gibt. Also, wenn man einen Längsschnitt hätte, der sagen würde „in den 70ern war das so und heute ist das so”, könnte man auch wirklich wissenschaftlich fundiert sagen, „ja, das ist so, eine echte Zunahme”. Dies kann man eben, wenn man wissenschaftlich seriös bleiben möchte, so nicht.

Was auffällt, ist eben, und zwar über alle Kassenarten, eine Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage durch psychische Erkrankungen – übrigens auch international – und korrespondierend damit fällt auf, dass die Psyche in der deutschen Rentenversicherung, bei Angestellten, mittlerweile der häufigste Grund ist, weswegen Menschen vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden. Und was daran ganz dringenden Handlungsbedarf zeigt, ist, dass diese Menschen im Schnitt 48 Jahre alt sind. Denn diese Menschen haben natürlich aufgrund des Alters eine Rente zu erwarten, die nicht hoch ist. Das sind vielfach so fünf-, sechshundert Euro, und meine Frage, die ich seit vielen Jahren gerne einmal untersuchen möchte – aber ich habe da bisher keine Unterstützer gefunden –, ist, „was wird aus diesen etwa 50 000 bis 55 000 Menschen pro Jahr?” Also, das sind ja nicht wenige. Wo bleiben die? Was wird aus denen? Ich kriege immer die Antwort „lass das doch sein, die wollen gar nicht auffallen, die sind froh, dass sie raus sind”, aber ich möchte es schon gerne mal wissen, so eine Art „systematische Katamnese” haben. Es gibt ja einzelne Kliniken, die haben solche Untersuchungen gemacht mit kleinen Fallzahlen, aber eine gewisse Systematik, ein Monitoring auch mit größeren Stichproben fehlt; da ernte ich eigentlich nur Achselzucken.

Würden Sie sagen, Ausscheiden aus dem Berufsleben mit einer „F”-Diagnose, sage ich jetzt mal so, ist möglicherweise gleichzusetzen mit der „Z”-Diagnose „Burnout”, weil wir Burnout im Moment nur als Zusatzcodifizierung benutzen können?

Ja, das ist in der Tat ein Problem. Es gibt ja viele Leute Ihres Fachgebietes, die den Begriff „Burnout” überhaupt nicht mögen. Meiner Meinung nach geht es um die Etikettierung. Und ich habe schon mal vorgeschlagen, wenn man den Begriff „Burnout” nicht will, dann „arbeitsbedingte depressive Störung” oder was auch immer zu nehmen, das mögen die meisten Kollegen aber auch nicht haben. Ich persönlich kann mit dem Begriff „Burnout” sehr gut leben, wenn er seriös angewendet wird, wenn man sich um eine Definition bemüht und sich möglichst auf eine auch einigen kann, und für mich ist, dass das eine „Z” ist und das andere „F” ist, nicht ein Grund zu sagen, ich zweifel' an der Existenz von Burnout-Syndromen. Die Amerikaner haben ja meines Wissens Burnout in ihrem DSM gar nicht drin?

Nein, da gehört es auch zu den berufsbezogenen Schwierigkeiten und die sind ähnlich wie im ICD-10 wenn überhaupt dann unter den Zusatzaspekten zu klassifizieren. Aber was wäre für Sie eine seriöse Referenz, eine seriöse Definition?

Also, ich erlebe oft, weil ich auch in Kreisen bin, die nicht unbedingt aus Psychiatern oder Psychotherapeuten bestehen, dass Burnout gleichgesetzt wird mit einfacher Müdigkeit oder berufsbezogener Müdigkeit oder Schlappheit oder „ich hab Stress und bin total kaputt” oder so. So würde ich es nicht sehen. Ich persönlich orientiere mich schon und die Arbeitsmedizin, denke ich, macht das jetzt (endlich!) auch, an der „Maslach'schen Trias (emotionale Erschöpfung, Depersonalisation, verminderte Leistungszufriedenheit) und wenn man sich darauf verständigen kann, ist das auch schon mal ein schöner Fortschritt.

Eines meiner ganz großen Anliegen ist, dass ich für eine verstärkte Kooperation zwischen „P-Fächern” – sage ich jetzt mal respektlos (lacht) – und Arbeitsmedizinern werben möchte. Also, da muss dringend was gemacht werden; der arbeitsweltliche Bezug der Psychosomatik – Psychiatrie ist total wichtig, es gibt einige fortschrittliche Kollegen, die das sehen und die das auch befördern und ich unterstütze diese Bemühungen, wo ich kann in meinem Fach, und bei der Arbeitsmedizin ist es genauso, das wird jetzt zunehmend auch thematisiert. Man muss allerdings aufpassen: Kooperation? Ja. Verstärkter Austausch? Ganz toll, aber ich würde niemanden umerziehen wollen. Ich möchte aus Psychosomatikern, Psychotherapeuten und Psychiatern keine neuen Arbeitsmediziner machen und ich möchte auch nicht, dass Arbeitsmediziner kleine Psychosomatiker, Psychotherapeuten oder Psychiater werden. Denn: Von Grunde auf ticken beide Seiten unterschiedlich, und so sollte es auch tunlichst bleiben. Der Psychiater und Psychotherapeut, jedenfalls wenn er kein Sozialpsychologe oder Sozialpsychiater ist, ist ja häufig sehr am Individuum orientiert, und der Arbeitsmediziner, der die Arbeitswelt und heute auch die Gesellschaft im Blick haben muss, sollte sehr an Gruppen und gesellschaftlichen Aspekten orientiert sei.

Ich finde das gut, und das findet sich auch bei Maslach: Es muss sich beides verbinden, Verhalten und Verhältnisse. Von einer „amputierten Sichtweise” hat keiner was. Wir müssen beide Kompetenzen vereinen, und es bringt nichts, wenn nur daran gedacht wird, dass ein Arbeitsmediziner psychosomatische Basiskenntnisse hat und möglicherweise auch eine Qualifikation für psychosomatische Grundversorgung erwirbt – das ist sicher nicht verkehrt. Aber das kann nicht die Lösung sein. Da bin ich wirklich sehr nahe bei Christina Maslach: Es muss auch darauf geachtet werden, wenn eine Organisation „faul und krank” ist, dass ich nicht nur den Einzelnen fit mache oder stärker mache, sondern auch schaue, was an der kranken Organisation zu verändern ist. Für mich geht es sogar noch einen Schritt weiter: Es geht nicht nur um die Organisation, teilweise geht es auch ums System.

Also ich denke gerne bei diesem Thema in dieser Trias „Individuum – Organisation, Unternehmen, Arbeitsplatz – System, Rahmenbedingungen”. Und an allen können Sie was verändern und besser machen, und es ist ganz klar, wenn auf der Individualschiene ganz augenfällige Sachen bestehen, wo interveniert werden muss, wo Ressourcen stark zu machen sind, wo ich sagen kann „änder' mal dies und das, und wenn du 'ne Therapie brauchst, dann machen wir das”, dass man da natürlich mit anfängt. Was ein bisschen traurig und enttäuschend ist, dass alle Untersuchungen, die ich zu Interventionen bei Burnout kenne, auf der Organisationsschiene – da gibt es nicht so schrecklich viele, aber es gibt ein paar Kollegen, die evaluiert haben, wie effektiv das ist – ganz schlechte Ergebnisse geliefert haben. Also das ist eigentlich nicht logisch. Eigentlich möchte man meinen, wenn Arbeitsbedingungen optimiert werden, müsste es auch mit dem Burnout besser werden, aber die Befunde in diesem Bereich sind bisher eigentlich enttäuschend.

Das könnte auch mit der Frage zu tun haben, wie viel Fürsorge einzelne Unternehmen aufbringen sollten. Aus psychotherapeutischer Sicht scheint ein großes Problem zu sein, dass wir die betroffenen Menschen zu spät sehen. In diesem ganzen Feld, was Sie umrissen haben, muss man einfach sagen, das Unternehmen wäre DER Ort für Prävention, und sei es für Sekundärprävention früher Einbrüche, die nicht klinisch evident werden, im Sinne erhöhter Arbeitsunfähigkeiten, im Sinne von Fluktuation von Mitarbeitern bei burnout-belasteten Führungskräften und in anderen Konstellationen. Da werden Chancen vergeben. Aber da müssten auch Grenzen überwunden werden: nicht nur von Arbeitsmedizinern zu „P-Fächern”, sondern auch die Grenze zwischen den Unternehmensinteressen und denen des einzelnen Mitarbeiters oder der von Mitarbeitergruppen. Das hat aber vielleicht auch etwas mit längerfristigen Unternehmenskonzepten zu tun …

Unbenommen! Aber, dass sich das ändert, da bin ich nicht mehr so optimistisch, wie ich mal war. Eine normale Führungskraft hat eine Standzeit in deutschen Unternehmen von etwa vier Jahren. Auch wenn Führungskräfte sehr sozial, sehr gesundheitsorientiert, sehr mitarbeiterorientiert führen …

… können sie mittel- und langfristige Perspektiven nicht verfolgen?

Ja, das ist wohl so. Es sind ja nicht alle Führungskräfte schlecht. Es sind allerdings viele nicht wirklich gut, auch in der Medizin. Es gibt Studien über das Führungsverhalten in verschiedenen Staaten, und da wird teilweise beschrieben, dass deutsche Führungskräfte hinsichtlich der Mitarbeiter- und Humanorientierung ganz unten zu finden sind. Und was das eigentlich Traurige daran ist: Das schadet ihrer Karriere nicht!

Aber der Aspekt der Zeitnähe von Interventionen ist mir auch besonders wichtig; dass z. B. die psychosomatische Reha immer viel zu spät kommt, nämlich dann, wenn der Zug längst schon in Richtung Rente abgefahren ist, und die Betriebsärzte sagen, schon die Psychotherapie kommt viel zu spät. Dann noch die Wartezeiten von teilweise sechs bis acht Monaten auf einen Therapieplatz. Da muss überlegt werden, was zu tun ist. Gibt es in dem System eine Möglichkeit, eine Art „Fast-Track-Intervention” zu machen? Was kann man machen, bevor die Richtlinien-Psychotherapie greift?

Die Betriebe helfen sich u. a. mit einer Lösung, die „EAP” (employee assistance programm) heißt, vielleicht haben Sie schon davon gehört, die Validität dieser Programme kann ich nicht beurteilen, bin aber eher skeptisch. Also das sind praktisch Dienste, die von Unternehmen angeheuert werden, und die sich um alles kümmern (Trouble-Shouter). Die haben natürlich auch wieder ihre Netze. Und dann kann es sein, dass Sie einen Siemens-Manager haben mittlerer Kategorie, der hängt so ein bisschen durch, weil die Frau sich scheiden lassen will und es im Beruf nicht klappt, weil er 120 Leute entlassen soll. Er kriegt Probleme, sein Arbeitgeber sagt „hier haste ne Telefonnummer, ruf die Hotline an”. Der „EAP-Dienstleister” kommt, oder er hat wieder einen Mittelsmann, und der Manager kriegt dann seine Lebensberatung, Coaching oder „Oberflächentherapie”, aber über ein anderes Netz, nämlich über den Zugang „Unternehmen”. Ob dieses wirklich besser ist als über den Zugang „Krankenversicherung”, den wir haben, weiß ich nicht. Ich denke, das ist auch noch nicht evaluiert worden. Aber die Tatsache, dass es so etwas gibt, zeigt ja, dass es in der Praxis offensichtlich ein Problem gibt. Ansonsten gäbe es solche Anbieter wohl nicht oder?

Und es ist teilweise so, dass es einige Menschen gibt, die einfach für sich selber entscheiden, dass sie das auf eigene Kosten finanzieren, wo aber ein ganz hohes Diskretionsbedürfnis zu bestehen scheint und schon das Praxisschild eines Psychotherapeuten ein Problem darstellt. Also, das Thema der Primärprophylaxe scheint noch sehr defizitbesetzt zu sein.

Absolut.

Da wird vielleicht auch eine andere Form von Öffentlichkeitsarbeit nötig: also bis hin dazu, dass man versucht, aus der Stigmatisierung „wenn ich im Job nicht zurechtkomme, bin ich unfähig” herauszukommen und die Menschen ermutigt, früher in Beratung zu gehen … ob man das dann schon Therapie nennen muss, ist ja eine andere Frage …

Absolut, und wir haben jetzt nur über die Defizitseite der Medaille gesprochen, sprich Arbeitsunfähigkeit, Frühverrentung. Mindestens genauso evident, aber das ist wissenschaftlich schwammig, weil wenig untersucht, ist das Problem, was wir in der Arbeitsmedizin mit „Präsentismus” umschreiben. Das sind Menschen, die krank sind, und trotzdem arbeiten gehen. Insbesondere bei den leichteren psychischen Störungen gehen Menschen teilweise mit Psychopharmaka oder anderen Substanzen einfach zur Arbeit, ohne dass es einer weiß. Die Folgen kennt man auch nicht so genau, also Eigen-, Fremdgefährdung, Langzeitauswirkungen. Das, was einige US-amerikanische Kollegen da rausgekriegt haben ist, dass der Produktivitätsverlust oder der volkswirtschaftliche Schaden durch Präsentismus fast höher ist oder höher sein soll als durch Arbeitsunfähigkeit, ich kann das nur so zitieren, weil ich deutsche Untersuchungen dazu nicht kenne.

Aber das ist ja spannend …

Ja, finde ich auch. Gleichzeitig glaube ich, dass Arbeitsunfähigkeit als einziger Marker oder Indikator für die Effektivität von Gesundheitsförderungsprogrammen nicht hilfreich ist; davon sollten wir meiner Meinung nach wegkommen. Also ich glaube, wir müssen uns da was anderes einfallen lassen, auch wenn das schwieriger zu messen ist. Für mich ist der beste Indikator die intrinsische Arbeitsmotivation. Da sagen viele „aber das ist ja zu komplex, wie willst du das denn messen?”, ja da muss man sich mal clever was einfallen lassen. Aber das ist, finde ich, ein viel besserer Indikator für den Erfolg einer Interventionsmaßnahme. Aber Sie sehen ja, wie komplex dieses Thema ist. Ich glaube, da könnten sich ganze Heerscharen von Forschern dran austoben. Aber bisher kenne ich keine deutsche Untersuchung zum Thema Präsentismus.

Was denken Sie wäre aus Ihrer Sicht wichtig, wenn im Moment Psychotherapeuten über Burnout nachdenken? Niedergelassene oder solche in einer Klinik.

Ja, ich glaube, dass die Stellung des Berufes in der Geschichte der Patienten mehr in den Blickpunkt gerückt werden sollte: dass man vielfach nach „Adam und Eva” fragt und die biografische Anamnese ausführlichst erhebt, aber dass der Beruf bis vor ungefähr zehn Jahren überhaupt keine große Rolle spielte. Ich denke, dass man den Beruf viel stärker in den Fokus nehmen sollte, denn ob man das gut findet oder nicht, diese Gesellschaft fokussiert extrem auf Erwerbsarbeit, nicht Arbeit an sich, sondern auf Erwerbsarbeit. Arbeit ist eben nicht mehr nur das halbe Leben! Und es ist heute erschreckenderweise so, dass, wenn es im Beruf nicht klappt, die Weichenstellung da falsch ist, teilweise die ganze Lebensperspektive schon verpfuscht wird. Und das darf eigentlich nicht sein.

Denken sie, Psychotherapeuten bräuchten mehr Know-how über Berufswelten?

Ja, das könnte auf keinen Fall schaden. Es wäre schon ein Erfolg, wenn man wirklich systematisch sagt, die berufliche Perspektive ist im Blick zu behalten, Psychotherapeuten müssen ein bisschen was wissen über die Herausforderungen der neuen Arbeitswelt, sie müssen jetzt keine Experten sein in der Gestaltung von Schichtarbeitsplänen und sonst was, das kann man nicht verlangen, aber der Beruf sollte zumindest mit auf der Rechnung sein, auch wenn da in der Kindheit ein Konflikt ist, der nicht verarbeitet ist. Also das, denke ich, wäre schon ein Riesenerfolg aufseiten der Psychotherapeuten, also wenn die denken, es gibt da einen Beruf oder wenn man dann vielleicht sogar was entwickelt, was ja einige Kliniken behaupten, dass sie so was hätten, also wirklich berufsbezogene Ansätze oder berufsbezogene Module in der Psychotherapie. Manche sagen ja zu Stressmanagementprogrammen „berufsbezogen”. Teilweise ist man da sehr kreativ, irgendwelche Probearbeitsplätze oder sonst was, Rollenspiele oder was es da alles gibt. Es kann sein, dass man zum Beispiel konkret zusammenarbeitet mit Schulen, mit Lehrerverbänden oder was auch immer, dass man die Nähe da sucht, dass man Vernetzung sucht, und aufseiten der Arbeitsmedizin, also dass man eben jetzt nicht denkt „o. k., ich kann das jetzt selbst”, sondern ganz, ganz frühzeitig Kontakt aufnimmt.

Und da wäre es natürlich gut, wenn auch regional die Leute gut miteinander kooperierten. Wenn ich zum Beispiel weiß, da ist ein großes Unternehmen und der betriebsärztliche Dienst weiß, mit dem und dem Psychotherapeuten können wir gut zusammenarbeiten … teilweise wird das ja auch schon gemacht. Ich will ja nicht sagen, dass es das alles nicht gibt. Aber dieser Gedanke der Vernetzung der erscheint mir ganz wichtig. Und dann eben in der Tat zu überlegen, wie können wir früher interventionell da rangehen? Denn der Konnex zur Arbeitswelt ist ja durchgängig: Die heute politisch am häufigsten verwendete Definition von Gesundheit ist Beschäftigungsfähigkeit (ob man das gut findet oder nicht, ich sehe das eher mit gemischten Gefühlen). Und wenn ich Gesundheit mit Beschäftigungsfähigkeit gleichsetze, dann muss ich natürlich auch auf den Ort der Beschäftigung fokussieren. Das heißt, dass Psychotherapeuten sich sehr viel mehr mit Facetten der Arbeitswelt beschäftigen und der Austausch mit der Arbeitsmedizin noch enger werden sollte.

Jetzt sind Sie ja, wenn ich das richtig gelesen habe, seit noch nicht so langer Zeit beim Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen. Hat sich seitdem in Ihrer Sichtweise auf das Thema „Burnout” etwas verändert?

Nicht wirklich, weil ich dafür eigentlich zu kurze Zeit im System bin; und da braucht man einfach mehr Zeit. Sicher sinnvoll erscheint es, von der Versorgungssystemebene, die Schnittstelle von Krankenversicherung (SGB V) und Unfallversicherung (SBG VII) intensiver zu bearbeiten. Ich sage Ihnen auch warum: Wir haben ja in Deutschland ein relativ etabliertes, zwar altes und aber gar nicht schlechtes System der Berufskrankheiten, die dann auch gesondert zulasten der Unfallversicherung entschädigt werden. Das Berufskrankheitensystem ist aber entsprechend der alten Ausrichtung der Arbeitsmedizin toxikologisch-chemisch-biologisch orientiert. Eine Berufskrankheit „beruflich bedingter Stress” oder „Erkrankung nach Stress” bleibt meines Erachtens nachgerade in dieser Zeit der Wirtschaftskrise eine Utopie.

Aber wo wir weiterkommen müssen, ist bei diesen sogenannten „arbeitsbedingten Erkrankungen”, das wäre eine Stufe drunter. Die arbeitsbedingten Erkrankungen sind bislang nur „schwammig” definiert. Irgendwas haben sie natürlich schon mit dem Beruf zu tun, aber es gibt keine enge, stringente Definition. Burnout würde ich übrigens darunter auch einsortieren. Wenn es uns gelingt, ähnlich wie bei den Berufskrankheiten eine Liste oder Register zu machen, wo wir derartige Gesundheitsstörungen einmal dezidiert aufführen, wo wir klassifizieren, was wesentliche Merkmale sind, dann könnten wir es denen, die damit umgehen, viel einfacher machen. Also, dann kann man nämlich sagen, „o. k., wenn ihr dies und dies habt, dann macht das und das”.

Auch für die Krankenversicherung ist das hochspannend. Manche Autoren schätzen das Volumen der sogenannten „arbeitsbedingten Erkrankungen” auf etwa 50 Milliarden Euro pro Jahr. Und wenn man die Krankenversicherung um einen derartigen Betrag entlasten könnte, sind das keine peanuts. Natürlich müsste man dann zumindest einen Teil der Kosten in die Unfallversicherung schieben, der Arbeitgeberseite würde das möglicherweise nicht gefallen. Aber dies wäre dann ein starker Impetus, evidenzbasierte Prävention zu forcieren, weil das ansonsten noch viel mehr Geld kostet. Also das Problem ist, dass die Zeit im Moment für Ideen dieser Art nicht gerade besonders empfänglich ist. Aber nichtsdestotrotz, wir müssen da weiterkommen.

Man käme dadurch vielleicht auch ein bisschen aus diesem schwammigen Begriff „Burnout” heraus, der manchmal inzwischen auch stigmatisierend erlebt wird. Also im Sinne von „na ja, sagt ja jeder, er hat Burnout”. Auch teilweise mit der Idee „na ja, der wollte sich nur drücken, der hatte keine Lust”, wobei sich viele Betroffene teilweise auch als „Drückeberger” bewertet sehen.

Ja, und man tut dem Begriff, man tut den Helfern, die damit arbeiten müssen, man tut den Betroffenen nichts Gutes, wenn man den Begriff inflationär verwendet. Das wäre auch mein Anliegen: Wir helfen der Sache damit nicht. Und da geht es wirklich um Abgrenzungsarbeit, und das wäre so das Ziel, dass die Kategorien und Systeme sich so ein bisschen aufeinander zubewegen, also ein strategisches Ziel sozusagen. Aber das wird sehr schwer und eine Zeitmarke möchte ich da gar nicht angeben.

Sollte es dann trotzdem jetzt ein Schlusswort sein?

Das wäre eins … das wäre eins meiner Ziele, ja, könnte man sagen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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