PiD - Psychotherapie im Dialog 2009; 10(4): 372-373
DOI: 10.1055/s-0029-1223399
Résumé

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Patientenautonomie – Voraussetzung und Ziel in einem

Henning  Schauenburg, Wolfgang  Loth
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Publication Date:
20 November 2009 (online)

In unserer Einleitung sprachen wir von der Patientenautonomie als einem schillernden, chamäleonhaften Begriff. In der Tat war es für uns beeindruckend zu sehen, wie unsere AutorInnen die Vielgestaltigkeit des Begriffes aus ihrer je eigenen Sichtweise lebendig werden ließen. Zunächst war zu erwarten, dass die Patientin, der Patient als autonome Person in allen therapeutischen Schulen sozusagen „gesetzt” ist. Unterschiede scheinen eher darin zu bestehen, wie nah am jeweiligen Kern des Modells Autonomie angesiedelt ist, und darin, wie zwingend eine Haltung aus den jeweiligen Therapieansätzen dann auch herausgelesen werden kann, die Autonomie voraussetzt bzw. sich an ihr orientiert.

W. Tress und M. Erny eröffnen aus einem psychodynamischen Verständnis das Feld mit der Position, dass PatientInnen auch das Recht haben müssen, Autonomie abzugeben, sich der fürsorglichen Zuwendung durch andere anheimzugeben. Die Autoren entwickeln die Metapher von Therapeuten als Leuchttürmen, also als Inhaber einer Position, die Orientierung bietet, aber keine Richtung vorschreibt. Dies würden andere AutorInnen nicht unbedingt teilen: Auch wenn Erkrankungen zum Verlust von Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten führen mögen, könnte der vorgestellte Ansatz doch u. U. ein zu paternalistisches Bild vermitteln. Wissen wir wirklich, welches der Weg ist, der unsere PatientInnen von den Klippen wegführt?

G. Schiepek weist demgegenüber darauf hin, dass psychotherapeutische Prozesse ein Element von autonomer „Nichtsteuerbarkeit” aufweisen. Der therapeutische Prozess enthält emergente Elemente, die nicht unmittelbar aus vorbestehenden Eigenschaften der Beteiligten abgeleitet werden können, sondern sich erst in der Bezogenheit aufeinander entwickeln und wirksam werden. Aus systemwissenschaftlicher Sicht steht daher nicht das Ideal des autonom entscheidenden Menschen im Zentrum, sondern das Schaffen von hilfreichen Rahmenbedingungen. Als hilfreich erweisen sich diese Rahmenbedingungen nur dann, wenn sie ein individuell passendes Vorankommen ermöglichen und fördern. Das Selbstverständnis von TherapeutInnen hat sich daher an dem Dilemma zu bewähren, wirksam handeln zu sollen, ohne je völlig gewiss sein zu können, was wie wirkt.

Hier deutet sich an, was von M. Kleemann aber auch von anderen betont wird: Autonomie ist immer in ein Beziehungsgeschehen eingebunden. Dies betrifft natürlich Übertragungsphänomene. Die Bezogenheit stellt die Weichen und gibt den Ton an. Die Vorstellung einer gesetzten „Autonomie” ist damit eingeschränkt. In der Diskussion um den „freien Willen” kommt dies zurzeit öffentlichkeitswirksam zum Tragen. Kleemann weist aber auch auf pointierte psychoanalytische Gegenpositionen hin, die jegliche Patientenäußerung als autonom sehen wollen. Es geht dann nur um die Aufgabe, Patientenäußerungen verstehend und empathisch in ihrer Konflikthaftigkeit zu deuten. Das Dilemma, dass Therapeuten mit ihrer „Deutungshoheit” die Entscheidungsfreiheit und die bestehenden Kompetenzen von Patienten potenziell bedrohen, bleibt in dieser Diskussion allerdings bestehen.

J. Wiltschko beschreibt mit dem Focusing dann einen radikal subjektiven Therapieansatz, der diesem Problem entgehen will, indem er dem intuitiven Wissen von PatientInnen, was gut für sie sei, und dessen therapeutischer Beförderung zentrale Bedeutung zuweist („den Körper sprechen lassen”).

J. Hargens stellt ebenfalls die „Kundigkeit” von Hilfesuchenden ins Zentrum. Für ihn „sollte die Frage der PatientInnenautonomie im Grunde gar keine sein – sondern als gegeben vorausgesetzt werden”. In seinem Beitrag arbeitet er dann heraus, wie die Kundigkeit der KlientInnen und das aktive „Beisteuern” der TherapeutInnen hilfreich zusammenwirken können. In der von Hargens vertretenen radikalkonstruktivistischen Sicht ist die „Ablehnbarkeit” der Sichtweisen der TherapeutInnen immer eine Voraussetzung, die klar kommuniziert werden müsse.

Solche Fragen stellen sich für behaviorale und hypnotherapeutische Ansätze mit ihren direktiven Elementen traditionell eher weniger. P. Kaimer, der sich nicht in dieser traditionellen Form verortet, spricht daher von „fürsorglicher Belagerung”. Er bedauert das autoritäre Bild, das PatientInnen diesbezüglich oft von den entsprechenden Therapieformen haben. Dass es plausible, wesentliche und tragfähige Verknüpfungen zwischen verhaltens- bzw. hypnotherapeutischen Ansätzen und dem Berücksichtigen von Patientenautonomie geben kann, arbeitet Kaimer dann überzeugend heraus. Er weist nicht ohne Ironie darauf hin, dass in den Darstellungen der Hypnotherapie die intuitiv-kluge „Selbstorganisation” der PatientInnen betont wird, während andererseits geradezu übermächtige, „geniale” Interventionen (M. Erickson) das öffentliche Bild der Methode beherrschen.

A. Fintz ruft noch einmal das Paradox der Autonomie ins Gedächtnis: Ohne Gegenüber gibt es nur „Pseudoautonomie”. Wie mehrere Autoren im Übrigen betonen, ist Freiheit durch Verbundenheit in einer Therapie nur zu erreichen, wenn von therapeutischer Seite die Rogers‘schen Grundkonstanten des therapeutischen Verhaltens (die ja den Respekt vor der Sicht der PatientInnen in den Vordergrund stellen) akzeptiert werden. Fintz orientiert sich in ihrem Beitrag an Karl Jaspers und geht von einem „Verstehen im Sinne des Anerkennens subjektiver Sinn-Zusammenhänge” aus. Im Fokus der Therapie stehe „nicht die Krankheit, vielmehr die anziehende Kraft eines persönlichen Sinns”. Fintz unterschlägt nicht, dass der Weg der Autonomie „die Möglichkeit des Scheiterns” beinhaltet.

N. Biller-Andorno und A. Jakovljevic machen am Beispiel der Schmerzbehandlung auch noch einmal deutlich, dass Empathie und Fürsorge Voraussetzung für die Vermeidung klassischer Therapiekonflikte sind. Das beinhalte „harte Arbeit”. Im Grunde seien das „alte Prinzipien ärztlicher Ethik”. Allerdings konkurrieren diese alten Prinzipien mit den sachzwanghaft erscheinenden Konsequenzen einer „zunehmenden Spezialisierung und Technisierung der Medizin”.

Dass es möglich – und sinnvoll – ist, angesichts von Krankheit und Behinderung an „Autonomie und Eigensinn” zu denken, zeigt C. Tsirigotis. In ihrem Beitrag beschreibt sie, wie mit der belastenden Situation gearbeitet werden kann – nicht gegen sie. Die belastende Situation wird so zum anerkannten Ausgangspunkt für das Entwickeln von gestärktem Selbstwirksamkeitserleben der Hilfesuchenden. Indem sie dabei die systemwissenschaftlichen „generischen Prinzipien” in praxistaugliche Überlegungen übersetzt, bietet Tsirigotis ein anschauliches Beispiel für eine konstruktive Wechselwirkung von Theorie und Praxis.

Der Begriff Patientenautonomie hat nicht zuletzt erhebliche gesellschaftliche Folgen gezeitigt. Ohne seine Thematisierung gäbe es keine Entwicklung von Modellen partizipativer Entscheidungsfindung (W. Eich), keine Beförderung der Rolle von Selbsthilfegruppen im Gesundheitssystem (J. Mazat), keine angemessene Berücksichtigung von Patientenrechten auf ihre Daten (M. Goßmann) und auch nicht die sich entwickelnde Beschwerdekultur (D. Munz et al.). Nicht zuletzt gehört auch die Empowerment-Bewegung (A. Lenz) hierzu, die mittlerweile auch im psychiatrischen Bereich Wirkung zeigt.

Die explodierenden Möglichkeiten des Internet bedeuten auf den ersten Blick einen offensichtlichen Zugewinn an Autonomie für PatientInnen. C. Eichenberg zeigt aber auch Grenzen auf. So sind „niedrigschwellige” Versorgungsangebote im Netz sicher oft hilfreich. Die Möglichkeiten der Informationsschöpfung aus dem World Wide Web dürfen aber in ihren therapeutischen Möglichkeiten nicht überschätzt werden. Sie gleichen in diesem Sinn eher der Lektüre von Selbsthilferatgebern, die nur für manche Menschen therapeutische Bemühungen ersetzen können. Und zuletzt: Die Fülle möglicher Informationen kann auch zu Verwirrung und Entmutigung führen. Wie schon gesagt: Ohne Bezogenheit keine Autonomie …

Lassen sich all diese Facetten, Dilemmata, Spannungsverhältnisse denn nun überhaupt in ein kohärentes Bild des Themas Patientenautonomie integrieren? Möglicherweise ergeben sich aus der Theorie der Selbstbestimmung von Ryan und Deci (2006) einige übergreifende Blickwinkel. Diese beiden Autoren verstehen Autonomie immer in Wechselwirkung mit Aspekten zwischenmenschlicher Bezogenheit und individueller Kompetenz. Jeder dieser Begriffe steht für ein Grundbedürfnis, dessen Nichterfüllen mit weitreichenden Konsequenzen für das jeweilige Leben in Verbindung gebracht wird. Autonomie und Unabhängigkeit werden dabei klar unterschieden, ebenso Autonomie und Getrenntheit, Individualismus und das Freisein von externen Einflüssen. Insbesondere die Einordnung von Autonomie im Hinblick auf das Erleben von sozialer Vernetzung und persönlicher Wirkungsfähigkeit dürfte für therapeutische Konstellationen ein wichtiger Ansatz sein. Ryan und Deci haben eine Vielzahl von Befunden zusammengetragen, die die Bedeutung von Autonomie unterstreichen und die dringend nahelegen, sie anzuerkennen und zu fördern. Dennoch bleiben sie offen für die nicht abschließbaren, fruchtbar-verstörenden Seiten dieses Themas. Zwar folgern sie „aus den Ergebnissen dieses Forschungsprogramms, dass Autonomie ein herausragendes Thema ist, das Entwicklung, Lebensbereiche und Kulturen übergreift und von zentraler Bedeutung ist für ein persönliches Funktionieren und Wohlbefinden”, doch ist ihnen klar: „Dennoch ist Autonomie von ihrem Kern her ein kontroverses Thema, das nicht mit jedem Paradigma und nicht mit jeder Herangehensweise in Einklang zu bringen ist. Daher zweifeln wir nicht, dass Autonomie ein Konstrukt bleiben wird, dessen Bedeutung weiterhin schöpferisch-konstruktiv debattiert werden sollte” (Ryan u. Deci 2006, S. 1580; Übersetzung WL). Wir haben den Eindruck, dass das vorliegende Heft und seine AutorInnen dazu beigetragen haben, diese schöpferisch-konstruktive Debatte lebendig zu halten. Das Thema bleibt ebenso notwendig wie spannungsreich.

Unser Ausgangspunkt war die – unterschiedlich motivierte – Notwendigkeit, die Autonomie der PatientInnen zu respektieren. Am Ende können wir festhalten, dass dies nicht als abhakbare Pflichterfüllung zu machen ist, sondern die Bereitschaft beinhalten muss, sich auf die Unwägbarkeiten eines Grundbedürfnisses einzulassen, das – trotz seines anderes andeutenden – Namens nicht alleine, sondern nur gemeinsam erfüllt werden kann. Wir würden uns freuen, wenn dieses Heft Sie darin angeregt hat, ihren eigenen therapeutischen Umgang mit dem Thema mit Aufmerksamkeit und geweitetem Blick neu zu betrachten.

Literatur

  • 1 Ryan R M, Deci E L. Self-regulation and the Problem of Human Autonomy: Does Psychology Need Choice, Self-determination, and Will?.  Journal of Personality. 2006;  74 (6) 1557-1586
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