Balint Journal 2009; 10(3): 94-95
DOI: 10.1055/s-0029-1224616
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Antwort auf Leserbrief von R. Gunkel zu „Strukturwandel und die Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts Teil 1“

Balint 2009; 10: 6–10Answer to Letter of R. Gunkel. Structural Change and the Erosion of Social CohesionBalint 2009; 10: 6–10A. Doering-Manteuffel
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Publication Date:
18 September 2009 (online)

Sehr geehrter Herr Dr. Gunkel,

haben Sie vielmals Dank für Ihren Brief vom 19. März, über den ich mich gefreut habe!

Zunächst freut es mich, dass die Überlegungen von Herrn Kollegen Petzold und mir Sie angesprochen haben und Ihnen etwas sagen. Wir trafen anlässlich einer Vorlesungsreihe im Winter 2007/08 aufeinander und waren uns der gemeinsamen Überzeugung von Anbeginn sicher, dass die katastrophalen sozialpsychologischen Folgen des neoliberalen politökonomischen Systems sehr hoch einzuschätzen seien und zur Sprache gebracht werden müssten. Während wir den Text geschrieben und publiziert haben, brach das System zusammen. Die Folgen können wir noch nicht abschätzen. In einer Hinsicht bin ich mir allerdings sicher: die dauernde Beschleunigung, die Hektik des Immer-schneller, Immer-besser, Immer-billiger, Immer-Mehr ist vorerst vorbei. Die blindwütige Verschuldung hingegen geht von den Privaten auf die Staaten über, womit wir regredierend ein Stück Wegs Richtung Sozialismus gehen, ­obwohl doch der gerade den Nachweis seiner umfassenden ökonomischen Inkompetenz erwiesen hat. Grund zum Jubeln besteht nach dem Kollaps des neoliberalen Systems also nicht.

Auch wird die Verarmung wohl viele Menschen treffen, denen es dann herzlich wurscht sein muss, wie das Verhältnis von Staat und Markt in der Zukunft aussehen mag. Solchen Menschen ist es dann im übrigen auch gleichgültig, mit welchen Kosten für Natur und Umwelt sie ihr armseliges Leben fristen. Sie wünschen sich mehr Komfort und ein besseres Auskommen, und dies bleibt auch in der absehbaren Zukunft ein energieintensives Problem. Deshalb liegt in der gegenwärtigen Krise vielleicht eine Chance, um von dem Diktat der Beschleunigung, des Tempos, des Mehr & Größer, wegzukommen; vielleicht verbindet sich ­damit sogar die Chance einer allmählichen Veränderung von Wertvorstellungen, sozialen und kulturellen Normen. Eine ökologische Chance, zumal im kontinentalen, gar globalen Maßstab, sehe ich dagegen überhaupt nicht.

Es sind die Staaten, die den Ressourcenverschleiß in erster Linie vorantreiben, nicht die Individuen. Erst wenn der Klimawandel Landstriche, Mensch & Tier, Staatswesen mit dem Untergang bedroht, könnte sich Weitreichendes verändern.

Ihr interessanter Text über das Hopkins-Buch mit Ihren persönlichen Auffassungen weist eine beträchtliche Ähnlichkeit auf zu den kulturkri­tischen Schriften und den Lebensformen der ­kulturkritischen Reformer um 1900. Damals ging es um vergleichbare Probleme: Hochindustriali­sierung mit einer exorbitanten Beschleunigung des Wandels der Lebensbedingungen, dem Verschwinden von Tradition und gewohnten Ordnungs- und Normgefügen, usw. Der „Fortschritt“ wurde seit 1890 / 1900 (auch) als Bedrohung angesehen, eine Auffassung, die der Erste Weltkrieg (als Krieg der Hochindustrialisierung) nur bestätigte. Kritische Geister sahen damals schon die Zerstörung von Umwelt durch städtische Zusammenballungen, Industrien und Abgase, Abwässer und Hygiene, etc. Die Phänomene damals (1885 / 1890 bis 1914 / 18) und heute (zwischen 1985 / 90 und 2009) ähneln sich sehr stark. Deshalb ähneln sich auch die Reaktionen.

Ihre Überlegungen zur Abraum-Beseitigung z. B. kann ich gar nicht teilen.

Wenn man sich vor Augen hält, welche Mengen an chemikalisch aufbereitetem Lebensmittel-junk die Leute zu sich nehmen und welche Mengen sie an Chemikalien durch Arzneien etc. noch zusätzlich zu sich nehmen, dann mag man sich nicht vorstellen, dass aus den Ausscheidungen Dünger hergestellt werden könnte. Vielleicht kennen Sie die Forschungen im Umfeld des Wasserschutzes, wo in Bächen und im Grundwasser festgestellt wurde, dass der überhöhte Anteil an ­Östrogen infolge der Pille zur überproportionalen Vermehrung von weiblichen Fischen führe; beim Grundwasser: zum Rückgang der Zeugungsfähigkeit bei jungen Männern.

Was davon stimmt und was Panikmache ist, kann ich nicht beurteilen. Ich weiß als Historiker nur, dass komplexe Entwicklungen nicht revidierbar sind, sondern in all ihrer Komplexität nur an sich selbst untergehen können. Für mich heißt das, im privaten Bereich das ökologische Postulat unbedingt hochzuhalten, dies aber in dem Bewusstsein, in der Gesellschaft insgesamt (vom Klima zu schweigen) damit nicht viel ausrichten zu können.

Realistisch sein, heißt aber auch, kritisch bleiben zu können. Deshalb danke ich Ihnen noch einmal für Ihren Brief und alle Bei­lagen.

Prof. Dr. A. Doering-Manteuffel

Wilhelmstr. 36

72074 Tübingen

Email: anselm.doering-manteuffel@uni-tuebingen.de

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