Zusammenfassung
Die Mitarbeiter der Rettungsdienste übernehmen zunehmend eine wichtige Rolle in der
medizinischen und psychologischen Erstversorgung von Patienten nach Suizidversuchen,
sowie in der Krisenintervention von Betroffenen mit akuter Suizidalität. Aus diesem
Grund soll in diesem Artikel, neben der Darstellung von grundlegenden Konzeptionen
zum Suizid und zur Suizidalität, Möglichkeiten der „Psychologischen Ersten Hilfe”
bei Menschen in psychosozialen Krisen und bei akut Suizidgefährdeten vorgestellt werden.
Darüber hinaus werden Konzepte dargestellt, welche ein Erkennen bzw. eine adäquate
Risikoeinschätzung der Suizidalität ermöglichen.
Summary
Emergency physicians, paramedics and the staff of the emergency room play an increasingly
important role in the medical and psychological emergency treatment of patients after
suicide attempts, as well as in the crisis intervention of persons with acute suicidal
tendency. This article aims to give an overview of prevalence rates, method of suicide
or attempted suicide, and the problems faced by EPs when treating these patients.
In addition, concepts are presented which allow for an adequate risk assessment of
suicidality and showing possibilities of primary crisis intervention.
Schlüsselwörter
Suizid - Suizidalität - präsuizidale Entwicklung - Suizidmethoden - Suizidraten -
Risikogruppen - Risikoabschätzung - Krisenintervention
Key words
suicide - suicidality - pre–suicidal development - suicide method - suicide rates
- suicide high risk factors - assessment of suicide risk - suicide crisis intervention
Kernaussagen:
-
Suizid bezeichnet den Akt der Selbsttötung – entweder durch beabsichtigtes Handeln
oder absichtliches Unterlassen, wobei der Betroffene das Ergebnis seines Verhaltens
im Voraus kennt und den tödlichen Ausgang seines Verhaltens billigend in Kauf nimmt.
Ein Suizidversuch ist eine primär als Suizid angelegte Handlung, die überlebt wird.
-
Der Begriff Suizidhandlung meint alle selbstschädigenden Verhaltensweisen mit Selbsttötungsabsicht.
Diese Intention der Selbsttötung unterscheidet Suizidhandlungen von selbstverletzenden
bzw. selbstbeschädigenden Verhaltensweisen.
-
Jemand gilt als akut suizidal, wenn bei ihm aktuell ein hoher Handlungsdruck für eine
Suizidhandlung besteht. In diesem Fall ist von einer unmittelbaren Gefährdung von
Leben und Gesundheit des Betroffenen (ggf. auch von seiner Umgebung beim erweiterten
Suizid) auszugehen – daher ist die akute Suizidalität ein absoluter (psychiatrischer)
Notfall.
-
Suizidalität ist meistens kein Ausdruck von persönlicher Freiheit und Wahlmöglichkeit,
sondern resultiert vielmehr aus eingeengter Wahlmöglichkeit des Betroffenen. Im Hintergrund
steht häufig eine psychische Erkrankung – vor allem Depressionen – oder eine Kurzschlussreaktion
auf scheinbar ausweglose Lebenssituationen im Rahmen einer psychosozialen Krise.
-
Ca. ein Viertel aller psychisch auffälligen Patienten im Notarztdienst sind suizidal.
-
Suizidalität wird in Notaufnahmen meistens nicht erkannt und, wenn doch, unterschätzt
– vor allem, wenn die Betroffenen alkoholisiert sind.
-
Die Frage nach Suizidgedanken ist Standard bei psychisch auffälligen Patienten, ebenso
die konsiliarpsychiatrische Untersuchung bei jedem Patienten nach Suizidversuch. Nach
einem Suizidversuch ist Suizidalität nicht unbedingt erloschen.
-
Suizidalität wird meist angekündigt. Jede (direkte oder indirekte) Suizidankündigung
muss ernst genommen und abgeklärt werden.
-
Bei hohem Suiziddruck sollten Benzodiazepine (z. B. Lorazepam) oder niederpotente
Antipsychotika (z. B. Levomepromazin) verabreicht werden.
-
Patienten, die einen Suizidversuch überlebt haben, sollten nicht moralisch unter Druck
gesetzt werden – z. B. durch Aktivierung oder Verstärkung von Schuldgefühlen. Auch
gut gemeinte, aber banale Aussagen oder ironische Kommentare sind ganz sicher fehl
am Platz.
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Prof. Dr. med. Frank G. B. Pajonk
Dipl. Psych./Psych. Psychotherapeut Roberto D'Amelio
eMail: Pajonk@klinik-dr-fontheim.de
eMail: Roberto.D.Amelio@uniklinikum-saarland.de