Dtsch Med Wochenschr 2009; 134(47): 2381
DOI: 10.1055/s-0029-1242697
Editorial
Suchtprävention
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Suchtprävention: Chancen der ärztlichen Versorgung nutzen!

Addiction prevention: Using the opportunities of health careU. John1 , G. Bühringer2 , S. Ulbricht1 , W. Kirch3
  • 1Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität Greifswald
  • 2IFT – Institut für Therapieforschung, München
  • 3Institut für Klinische Pharmakologieder Technischen Universität Dresden
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Publication History

Publication Date:
12 November 2009 (online)

Das vorliegende DMW Heft hat den Schwerpunkt Suchtprävention und wendet sich vor allem an Mediziner. Welcher Sinn steckt dahinter, wo doch die Vorbeugung des Suchtmittelkonsums überwiegend auf Interventionen bei Jugendlichen in der Schule, der Familie und in Freizeiteinrichtungen fokussiert ist, und medizinische Einrichtungen in der Prävention bisher kaum eine Rolle spielen? Die Antwort ist einfach: Die ärztliche Versorgung birgt zwei eminente Vorteile, die ihr eine wesentliche Rolle bei der Prävention früher Formen des riskanten, schädlichen und abhängigen Konsums von psychotropen Substanzen geben: Erstens sehen Ärztinnen und Ärzte einen großen Teil der gesamten Bevölkerung. Von allen Erwachsenen Deutschlands hatten mehr als 70 % in den letzten 12 Monaten Kontakt zu einer Ärztin oder einem Arzt. Zweitens zeigen Projekte der Frühintervention zum Tabakrauchen und gesundheitsriskanten Alkoholkonsum in Arztpraxen und Krankenhäusern Deutschlands, dass die Patienten durchaus den ärztlichen Rat zur Beendigung des Rauchens oder riskanten Alkoholkonsums annehmen und offen sind für entsprechende Beratungen. Im Gegensatz zu diesen klaren Erkenntnissen werden suchtpräventive Aspekte in der medizinischen Versorgung bisher zu wenig berücksichtigt, und Chancen bleiben ungenutzt. Bei sinnvollen Rahmenbedingungen gibt es eine hohe Bereitschaft unter Ärzten, einen Beitrag zur Beratung von Patienten mit Suchtproblemen zu leisten. So erhielten in einer Studie zufällig ausgewählte niedergelassene Ärztinnen und Ärzte für jeden rauchenden Patienten eine kurze Aufforderung zur Beratung in der täglichen Routine. Bei 96 % der Behandlungen wurde daraufhin das Tabakrauchen tatsächlich angesprochen! Viel gescholtene Barrieren mangelnder Zeit und Vergütung lassen sich also minimieren.

In Deutschland gibt es noch wenige Studien und Praxiserfahrungen zur Suchtprävention in medizinischen Einrichtungen. Umso verdienstvoller ist es, dass die DMW zwei Gasteditoren beauftragt hat, das Thema in einem Schwerpunktheft vorzustellen. Besonders erfrischend erscheint an den Beiträgen in diesem Heft, dass sie Vielfalt und Interdisziplinarität zeigen, allerdings bei einer Begrenzung auf legale Substanzen. Die präsentierten Interventionen basieren z. T. auf Kontrollgruppenstudien zur Überprüfung der Wirksamkeit. Als Fazit lässt sich aus den einzelnen Arbeiten ziehen, dass Frühinterventionen in medizinischen Versorgungseinrichtungen zur Verlängerung eines beschwerdefreien Lebens beitragen können.

Zwei Gründe waren für die Auswahl der Beiträge entscheidend. Erstens sollte es sich um eine hohe Relevanz für die Gesundheit der Bevölkerung und zweitens um praktische Relevanz für die medizinische Versorgung handeln. Die Beiträge sind weitgehend der Praxis entnommen, z. T. sind Forschungsarbeiten dargestellt, die in den Alltagsbedingungen der Praxis durchgeführt wurden. Der Beitrag von A. Bühler führt in die herkömmliche Evidenz zur Prävention ein. Die Autorin spricht Familie, Schule, Gemeinde und Gesetzgebungen an, stellt aber auch fest, dass „die beste” Methode bisher nicht gefunden sei. Aus der Praxis der medizinischen Versorgung erläutern Rumpf et al. die korrekte Erfassung problematischen Alkoholkonsums und Bischof et al., wie eine Abhängigkeit von Medikamenten diagnostisch erfasst werden kann – ein Thema, dessen systematische Umsetzung oft zu kurz kommt. So wurde ein Leitfaden zum Umgang mit schädlichem Gebrauch oder Abhängigkeit von Medikamenten als Hilfe für niedergelassene Ärzte entwickelt, den Groß et al. präsentieren.

Im direkten Kontakt mit Patienten sind die Klagen vielfältig. Sie reichen von mangelnder Zeit auf Seiten der Ärzte bis zu mangelnder Motivation auf Seiten der Patienten. Kremer und Sibum-Kremer geben hilfreiche Hinweise für den alltäglichen Umgang aus der Praxis für die Praxis, Veltrup macht deutlich, wann an das Suchtkrankenversorgungssystem zu denken sei, und Meyer et al. stellen einen arztentlastenden Ansatz zum Umgang mit dem Tabakrauchen dar, der auf dem internationalen Stand des Wissens basiert und sich als wirksam erwiesen hat. Eine Besonderheit ist auch, dass dieser Kurzinterventionsansatz an alle rauchenden Patienten gerichtet ist, gleichgültig, ob sie zum Aufhören motiviert sind oder nicht. Zu den verfügbaren medikamentösen Therapien geben Friederich und Batra einen Überblick. Für den stationären Bereich stellen Flöter und Kröger ein Nachsorgeprogramm in der Tabakentwöhnung für Frauen vor.

Ferner kommen kontroverse Aspekte zur Sprache. Lindenmeyer hält der Forderung von Surrmann nach Abstinenz unter Jugendlichen entgegen, diese sollten unter kontrollierten Bedingungen gesundheitsbewussten Umgang mit Alkohol lernen. Söder appelliert an die Gemeinschaft Erwachsener. In einem Pro von Körkel und einem Contra von Mann geht es um ein Thema, das in der Suchtkrankenversorgung die Gemüter Jahrzehnte erhitzt hat: Können alkoholabhängige Menschen moderat trinken?

Prof. Dr. U. John

Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität Greifswald

Walter Rathenau-Str. 48

17475 Greifswald

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