Der Klinikarzt 2009; 38(11): 473
DOI: 10.1055/s-0029-1243759
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Paradigmenwechsel in unserer Gesundheitspolitik?

Matthias Leschke
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Publication Date:
07 December 2009 (online)

Klar ist es allen Beteiligten schon seit Jahren, dass unser Gesundheitsversorgungssystem eine grundlegende Umstrukturierung braucht. Die Beteiligten – Patienten, Ärzte, Kliniken, Krankenkassen, Industrie – kriegen das nicht hin, weil jeder auf seinen Besitzstand starrt und nur dem anderen ans Leder will. Deshalb brauchen wir schon eine übergeordnete Instanz, die den Wandlungsprozess anstößt, moderiert und letztendlich mit der Autorität einer demokratischen Grundordnung durchsetzt. Notfalls auch gegen Einzelinteressen. Diese Instanz ist unsere Regierung. Das freilich ist für die gewählten Volksvertreter kein beneidenswerter Job. Die meisten denken insgeheim vor allem an ihre Wiederwahl in 4 Jahren. Nur ein Harakiri–Kandidat oder ein rechtschaffener Vertreter des Volkes wird es da wagen, Entscheidungen mitzutragen oder gar anzuregen, die ihn bei der einen oder anderen Interessengruppe Stimmen kosten könnte.

Unserem Gesundheitssystem wirklich eine neue Struktur zu verpassen, erfordert Mut. Großen Mut. Salopp gesagt: Alle müssen bluten, doch das will behutsam und nachdrücklich vermittelt sein.

Für die alte Koalition war das sehr schwierig. Damit Rot und Schwarz das Gesicht wahren konnten, arbeitete man mit Kompromissen, die unsere Bundeskanzlerin, wahrscheinlich gegen ihre innere Überzeugung (denn klug ist die Frau), moderierte und durchsetzte. Die heilige Kuh war der Gesundheitsfonds. Im Grunde nahezu hilflose, sozialistische Gleichmacherei: Schon allein zwischen den Krankenkassen gibt es praktisch keinen Wettbewerb mehr, es sei denn, die eine Kasse offerierte ihren jungen Familien einen kostenlosen Wellnessurlaub an der Nordsee und die andere profilierte sich durch Walking–Kurse.

Ulla Schmidt hatte von Medizin wenig Ahnung, doch viel Machtbewusstsein, das am Ende ihrer Karriere ihren Realitätssinn zerstörte. Die Ärzte, vor allem die Fachärzte, waren ihr ein Dorn im Auge, die Krankenkassen suspekt, gegen die Macht der Pharmaindustrie kam sie nicht wirklich an. Und den Patienten hatte sie alles Mögliche und Unmögliche versprochen. Schmidts Gesundheitsreform war Ausdruck einer Schröder'schen Basta–Strategie.

Die Koalition der Mitte, nennen wir sie mal so, hat einen jungen Mann in ihren Reihen, der sich als Wirtschaftsminister in einem Bundesland sein politisches Rüstzeug angeeignet hat und der immerhin selbst Arzt ist. „Ich habe angefangen, Medizin zu studieren”, so Philipp Rösler, der neue Gesundheitsminister, „weil ich mit Menschen zu tun haben wollte. Als ich fertig war, hatte ich mehr mit Qualitätssicherungsbögen zu tun.... Da habe ich mir gedacht: Jetzt kannst du gleich selber in die Politik gehen und solche unsinnigen Gesetze abschaffen.” Rösler, das nehmen wir ihm ab, will einen Turnaround. Allein schafft er das nicht.

Natürlich glauben wir alle längst nicht mehr an Wunder. Doch geben wir uns pragmatisch. Schaffen wir Allianzen zwischen unseren Patienten und uns, zwischen Klinikärzten, niedergelassenen Fachärzten und Hausärzten. Ziehen wir doch zum ersten Mal alle an einem Strang. Und nehmen wir unsere Patienten mit ins Boot. Wir haben jetzt die Chance, eine wirklich akzeptable Lösung zu finden, die ein neues, belastbares Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten, Pflegekräften und Patienten schafft, die ärztlichem Wissen und Gewissen Vorrang vor dem bürokratischen Dokumentations– und Qualitätssicherungsmonster einräumt. Und wir müssen Partikularinteressen dem Wohl unserer Patienten (das wir so gerne zitieren) unterordnen. Das bedeutet vor allem auch für uns Ärzte, wirklich verantwortungsvoll mit den gar nicht so geringen wirtschaftlichen Ressourcen umzugehen.

Ich meine, wenn wir das jetzt mit diesem Gesundheitsminister und der neuen Regierung nicht hinkriegen, dann Gesundheitsreform adieu! Dann wird die Mehrklassen–Medizin auch in Deutschland Alltag, dann verlassen immer mehr Ärzte die Republik, dann wird die Shareholder–value–Philosophie auch unsere jahrhundertealte ärztliche Ethik hinwegfegen. Dann haben wir die Dominanz einer nur noch auf Gewinne ausgerichteten Gesundheitswirtschaft.

Ich will jedoch optimistisch bleiben und daran glauben, dass es nicht so kommt. Im Gegenteil lässt der neue Gesundheitsminister darauf hoffen, dass ärztliche Verantwortung, klinisches Engagement und persönliche Zuwendung dem Patienten gegenüber wieder einmal größeren Stellenwert gewinnt, als das gegenwärtig bürokratisch überbordende System es zulässt.

Prof. Dr. med. Matthias Leschke

Esslingen

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