Suchttherapie 2010; 11(1): 8
DOI: 10.1055/s-0030-1247567
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Moderater Substanz-Gebrauch

Moderate UseM. Schaub1 , R. Stohler2 , L. Falcato3
  • 1Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung ISGF, Zürich
  • 2Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen, Klinik für Soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
  • 3Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Umgang mit Drogen, ARUD Zürich
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Publication Date:
24 February 2010 (online)

Liebe Leserinnen und Leser,

im zeitgenössischen drogenpolitischen Diskurs haben die Befürworter eines Schadenminimierungsansatzes („harm reduction”) gegenüber den Verfechtern des Kriegs gegen Drogen („war on drugs”) weltweit an Einfluss gewonnen (siehe beispielsweise den World Drug Report 2009 der UNODC [http://www.unodc.org/unodc/en/data-and-analysis/WDR-2009.html]). Allerdings sind die Konzepte, die sich unter diesem Titel subsumieren lassen, nur teilweise einheitlich. Einigkeit besteht darüber, dass ein gewisses Maß an Drogengebrauch in allen Gesellschaften unvermeidbar sei, dass sich Interventionen an den Menschenrechten – wie beispielsweise Zugang zu medizinischer Behandlung für alle – zu orientieren hätten und dass die Effektivität von Maßnahmen nach deren Beitrag zu einem höheren individuellen und gesellschaftlichen Wohlbefinden und nicht allein nach deren Einfluss auf die Inzidenz und Prävalenz des Konsums zu beurteilen sei.

Uneinigkeit hingegen betrifft die Wertung eines Konsums von Drogen, auch in moderater Weise. Ist ein moderater Konsum einfach das kleinere Übel gegenüber einem nicht moderaten? Ist Drogenkonsum weiterhin als das malum in se zu werten, an dem möglichst nicht – und falls das unrealistisch ist – möglichst wenig zu partizipieren sei? Oder ist ein moderater Konsum unter Umständen sogar wertvoll? Kann ein moderater Konsum beispielsweise kulturelle Leistungen positiv beeinflussen?

Das vorliegende Heft nimmt sich den Raum, das Konzept des Moderaten Konsums – mit Pioniergeist und auf Basis fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse – näher zu behandeln.

Nach einer Skizzierung des konzeptionellen Rahmens des Konstruktes „Moderater Konsum” durch die Herausgeber präsentiert Ambros Uchtenhagen in diesem Heft einige Leitgedanken zum Konzept, basierend auf eindrucksvollen Befunden aus der Empirie, aber auch mit Bezug zu philosophischen Schriften seit Platon. Befunde zum Kontrollieren Trinken spielen eine wesentliche Rolle in der Anwendung des Konzepts des Moderaten Konsums in der Behandlung von Alkoholabhängigen. Harald Klingemann, Magdalena Dampz und Horace Perret fassen den Stand der Forschung zum Kontrollierten Trinken zusammen und stellen eine Internetumfrage zur Praxiserfahrung von Kursleitenden dieses Ansatzes aus der Therapie von Alkoholabhängigen in der Schweiz vor. Robert Hämmig beschreibt – nebst dem Reduzieren von Tabakkonsum – verschiedene andere Schadenminderungsstrategien, welche auch Möglichkeiten eines moderaten Konsums von Tabak darstellen. Wie die Lebensläufe vieler bekannter Künstler exemplarisch aufzeigen, dass moderater Cannabiskonsum und eine erfolgreiche Lebensführung miteinander vereinbar sind, wird von Rudolf Stohler dargelegt. Joachim Körkel und Uwe Verthein zeigen auf, dass ein moderater, d. h. zumindest unproblematischer Konsum von Kokain und Heroin nicht nur für bestimmte Menschen, die keine Substanzprobleme haben und keine Angebote der Suchthilfe benötigen, durchaus möglich ist, sondern dass kontrollierter Konsum auch in der Behandlung Kokain- und Heroinabhängiger oftmals ein adäquates therapeutisches Instrument sein kann, um einen moderaten Konsum auch bei diesen Substanzen zu erreichen. Auf einleuchtende Weise leitet Bengt Kayser her, dass die fundamentalistische Dopingbekämpfung im Wettkampfsport von unredlichen Voraussetzungen ausgeht (z. B. „equal playing grounds”), durch eine regulierte Zulassung von Doping aber mehr für die psychische und körperliche Gesundheit von Athleten getan werden könnte. Die Sportwelt könnte durchaus etwas vom Konzept des moderaten Konsums aus dem Suchtbereich lernen. Schließlich ist noch Jürg von Ins’ Artikel über die Vierzeiler des persischen Dichters Chajjam einzuführen. Hier wird der Analogie und Parallelität zwischen einer „All-umfassenden Erkenntnis” durch mystische Erfahrungen und den Rauscherlebnissen durch psychoaktive Substanzen nachgegangen, die einen befähigen, das (analytisch-rational) Getrennte wieder als Ununterschiedenes zu erfahren.

Nicht im Schwerpunktteil, aber von großer aktueller Relevanz ist der Beitrag der Arbeitsgruppe um Dieter Henkel, der den Umsetzungsstand der Beratung und beruflichen Integration Suchtkranker nach SGB II untersucht. Dabei geht es um die Umsetzung dieser neuen Optionen im Sinne „guter Praxis”.

Wir wünschen Ihnen eine informative und spannende Zeit beim Lesen dieser Ausgabe.

Korrespondenzadresse

Dr. M. Schaub

Fachpsychologe für Psychotherapie FSP

Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung

ISGF Zürich

Konradstraße 32

Postfach

8031 Zürich

Email: michael.schaub@isgf.uzh.ch

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