Gesundheitswesen 2010; 72(3): 150-153
DOI: 10.1055/s-0030-1247577
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Transnationale Solidarität?

Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in der Europäischen UnionTransnational Solidarity?Cross-Border Heath-Care in the European UnionR. Schmucker1
  • 1Institut für Medizinische Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt a. M.
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Publication Date:
26 February 2010 (online)

Zusammenfassung

Die Kompetenzen der Europäischen Union im Gesundheitswesen konzentrieren sich auf koordinierende und ergänzende Tätigkeiten. Nur in wenigen Bereichen kommt es zu europäischen Harmonisierungen von Normen und Verfahren, wie z. B. bei der Arzneimittelzulassung und dem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Einen zunehmenden Einfluss gewinnt die europäische Ebene über die Anwendung des Binnenmarktrechts auf die nationalen Gesundheitssysteme (negative Integration). Dies hat ambivalente Auswirkungen. Während auf der Basis der vier Grundfreiheiten die Rechte der Patienten im Rahmen der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung gestärkt wurden, sehen sich die nationalen Regierungen mit einer Einschränkung ihrer gesundheitspolitischen Handlungsspielräume konfrontiert. Die vertraglichen Grundlagen des Integrationsprojektes führen dazu, dass nationale Regulierungen, die nicht unmittelbar mit dem Binnenmarkt kompatibel sind, unter einen europäischen Rechtfertigungsdruck geraten.

Abstract

The responsibilities of the European Union surrounding public health are concentrated on co-ordinating and complementary practices. A mandatory European harmonisation of standards and policies is in effect in only a few areas such as pharmaceutical authorisation and health protection at the workplace. The implementation of single market rights over the national health-care systems (negative integration) is growing at the European level. This has ambivalent repercussions. Whilst the rights of patients on the basis of the four fundamental freedoms in the context of cross-border health-care have got stronger, national governments see themselves confronted with a limitation of scope for their health-care policies. The basic principles of the integration project place European pressure on national governments. They are subject to sanctions if their policies are not directly in accordance with the single market concept.

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Korrespondenzadresse

Dr. R. Schmucker

Institut für Medizinische Soziologie

Klinikum der Goethe-Universität

Theodor-Stern-Kai 7

60590 Frankfurt a. M.

Email: r.schmucker@em.uni-frankfurt.de

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