Zusammenfassung
Das finnische Modell der Bedürfnisangepassten Behandlung („need-adapted treatment”)
entstand insbesondere für die Behandlung psychotischer Ersterkrankungen im Rahmen
eines längeren Entwicklungsprozesses und wird derzeit in etwa einem Viertel der Regionen
Finnlands und in anderen skandinavischen Ländern als Routineversorgung bei Psychosen
umgesetzt. Kennzeichnend sind die sofortige und flexible Hilfe, die Einbeziehung der
Familien und weiterer Bezugspersonen in der Form sogenannter „Therapieversammlungen”
von Beginn an und möglichst zu Hause beim Patienten, eine dezidiert psychotherapeutische
Ausrichtung der Behandlung, die personale Kontinuität durch ein multiprofessionelles
therapeutisches Team und eine möglichst niedrig dosierte selektive Psychopharmakotherapie.
Ungefähr die Hälfte der Patienten nimmt zusätzlich längerfristige Einzeltherapie in
Anspruch. Innerhalb dieses Behandlungsmodells wurde in der Versorgungsregion West-Lappland
unter der Leitung von J. Seikkula und inspiriert durch T. Andersen aus Tromsö (Norwegen)
die systemische Methodik des Offenen Dialogs entwickelt. Sie ist ausgerichtet auf
die sozialen Netzwerke der Patienten, fördert durchaus vielstimmige Dialoge und schafft
einen möglichst sicheren Rahmen für einen gemeinsamen offenen Prozess. Darin sind
größtmögliche Gleichwertigkeit, gemeinsame Verantwortung und das Aushalten von Unsicherheit
unter Vermeidung vorzeitiger Schlussfolgerungen und Entscheidungen leitende Prinzipien.
Die flexible Anwendung der Methode des Reflektierenden Teams erwies sich als ausgesprochen
hilfreich. Die Evaluation durch vergleichende Kohortenstudien zeigte signifikant bessere
symptomatische und funktionelle Ergebnisse im Vergleich zur Standardbehandlung, insbesondere
eine geringe Hospitalisierungsrate und hohe Integration in bezahlte Arbeit oder Ausbildung.
Schlüsselwörter
Psychosen - Bedürfnisangepasste Behandlung - Offener Dialog - Therapieversammlung
- Need Adapted Treatment
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1 Wir benutzen den Terminus „Schizophrenie” aus Konvention und um wissenschaftliche
Studien zitieren zu können. Schizophrenie ist jedoch ein Konstrukt unbekannter Gültigkeit
(Validität) und seine Diagnostik von nur moderater Zuverlässigkeit (Reliabilität).
Auch ist der stigmatisierende Effekt dieser Diagnose groß. Die diskutierte Abschaffung
des Begriffes in einem neuen DSM-V (ca. 2013) kann nur erhofft werden.
Dr. med. Volkmar Aderhold
Hansaplatz 4
20099 Hamburg
Email: v.aderhold@gmx.de